«Mein Herr», sagte Mogor dell’Amore, und man hätte meinen können, dass seine Stimme ein wenig zitterte, «ich flehe Euch an, Euch und nur Euch allein eine gewisse Angelegenheit offenbaren zu dürfen.»
Akbar brach in schallendes Gelächter aus. «Wir
glauben, wenn wir Euch länger warten lassen, erstickt Ihr noch
daran.» Er kicherte. «Seit über einer Stunde schon kommt Ihr mir
vor wie ein Furunkel, der jeden Moment zu platzen droht.»
Der Fremde verfärbte sich tiefrot. «Euer Majestät wissen alles»,
sagte er mit einer Verbeugung. (Der Herrscher hatte ihn nicht
aufgefordert, sich zu setzen., «Doch wage ich zu behaupten, dass
Euch der Inhalt meiner Mitteilung nicht bekannt sein kann, auch
wenn der Sachverhalt noch so offensichtlich zu sein
scheint.»
Akbar fasste sich wieder und setzte eine ernste Miene auf. «Nun,
heraus damit», sagte er. «Lasst hören, was Ihr zu sagen
habt.»
«Also schön», begann der Fremde. «Es lebte dereinst im Fernen Osten
ein Fürst namens Argalia, auch Arcalia genannt, ein großer Krieger,
der Zauberwaffen sein Eigen nannte und zu dessen Gefolge vier
schreckliche Riesen gehörten; außerdem war eine Frau bei ihm,
Angelica»…
Von Bord des Schiffs Farmayish, das mit Abul
Fazl und einer kleinen Schar Männer auf die Asayish zuraste,
ertönte in diesem Moment der laute Schrei: «Habt acht! Rettet den
Monarchen! Habt acht!», und kurz darauf stürzte die Mannschaft des
königlichen Schiffes in die Kabine und ergriff Mogor dell’Amore,
ohne zu zögern und zu zaudern. Ein muskelbepackter Arm schloss sich
um seine Kehle, drei Schwerter richteten sich auf sein Herz. Der
Herrscher war aufgesprungen und wurde ebenfalls rasch von
bewaffneten Männern umstellt, um ihn vor jedem Schaden zu
bewahren.
« … Angelica, die Prinzessin von Indien und China … » Verzweifelt
versuchte der Fremde, seine Geschichte zu erzählen, doch der Arm
presste ihm die Luft ab. « … die schönste … », fügte er noch unter
Schmerzen hinzu, doch dann drückte der Arm ein wenig fester zu,
woraufhin Mogor dell’ Amore das Bewusstsein verlor und kein Wort
mehr herausbrachte.
7. Im Dunkel des Verlieses machten ihm die
Ketten ebenso zu schaffen…
Im Dunkel des Verlieses machten ihm die Ketten ebenso zu schaffen
wie die unbeendete Geschichte. So viele Kettenglieder umschlangen
ihn, dass er im Dunkeln das Gefühl hatte, er sei irgendwie in einen
größeren Leib eingeschlossen, in den Leib eines Eisenmenschen.
Bewegung war unmöglich, Licht nur ein Hirngespinst. Das Verlies war
in den Berg unter dem herrschaftlichen Palast eingelassen, direkt
aus dem Fels gehauen, und die Luft in seiner Zelle musste tausend
Jahre alt sein, ebenso alt wie das Getier, das über seine Füße
krabbelte, durch sein Haar, in seine Weichteile, all die
Albino-Kakerlaken, die blinden Schlangen, die durchsichtigen
Ratten, die Phantomskorpione und Läuse. Er würde sterben, ohne
seine Geschichte erzählt zu haben. Allein diese Vorstellung fand er
unerträglich, doch loswerden konnte er sie auch nicht, denn sie
weigerte sich, ihn zu verlassen, kroch ihm zu den Ohren hinein und
hinaus, glitt in seine Augenwinkel, klebte ihm am Gaumen und an der
zarten Haut unter seiner Zunge. Alle Menschen mussten ihre
Geschichte loswerden. Er war ein Mensch, doch wenn er starb, ohne
seine Geschichte erzählt zu haben, wäre er weniger als ein Mensch,
nur eine Albino-Kakerlake, eine Laus. Das Verlies hatte keinen
Begriff von einer Geschichte. Es war statisch, ewig und schwarz,
eine Geschichte aber brauchte Bewegung, Zeit und Licht. Er spürte,
wie sie ihm entglitt, wie sie folgenlos wurde, zu existieren
aufhörte. Er hatte keine Geschichte. Es gab keine Geschichte. Er
war kein Mensch. Hier gab es keinen Menschen. Es gab nur das
Verlies und die glitschige Dunkelheit.
Als sie kamen, um ihn zu holen, wusste er
nicht, ob ein Tag oder ein Jahrhundert vergangen war. Er konnte die
groben Hände nicht sehen, die seine Ketten lösten. Und eine
Zeitlang war auch sein Gehör beeinträchtigt, seine Fähigkeit zu
reden. Man verband ihm die Augen und brachte ihn nackt an einen
anderen Ort, an dem er sauber gescheuert und geschrubbt wurde. Als
wäre ich eine Leiche, die zur Beerdigung vorbereitet wird, dachte
er, ein stummer Korpus, der seine Geschichte nicht erzählen kann.
In diesem unchristlichen Land gab es keine Särge. Man würde ihn in
ein Tuch nähen und namenlos in ein Erdloch werfen. Das - oder ihn
verbrennen. Er würde nicht in Frieden ruhen. Im Tod wie im Leben
steckte er voll unausgesprochener Worte, und sie würden seine Hölle
sein, ihn bis in alle Ewigkeit peinigen. Er hörte ein Geräusch. Es
lebte dereinst. Seine eigene Stimme. Die Zunge fühlte sich dick an,
doch konnte er sie bewegen. Das Herz wummerte wie eine Kanone in
seiner Brust. Der Zauberwaffen sein Eigen nannte. Er hatte wieder
einen Körper und auch Worte. Man nahm ihm die Augenbinde ab. Vier
schreckliche Riesen und eine Frau. Er kam in eine andere Zelle, in
der eine Kerze brannte, und in einer Ecke stand eine Wache. Die
schönste Frau. Die Geschichte rettete sein Leben.
«Spart Eure Kräfte», sagte die Wache. «Morgen werdet Ihr wegen
Mordes angeklagt.»
Es gab da eine Frage, die er zu stellen versuchte. Die Worte
wollten nicht kommen. Die Wache hatte Erbarmen und stellte sie für
ihn.
«Ich kenne den Namen des Mannes nicht, der Euch anklagt», sagte er,
«aber er ist ein gottloser Fremder wie Ihr selbst, und ihm fehlt
ein Auge sowie ein halbes Bein.» Mogor dell’ Amores erste
Verhandlung fand im Haus des Sandsteinbananenbaumes statt, und
seine Richter waren die bedeutendsten Granden des Hofes, alle neun
der Neun Sterne, deren Anwesenheit ein außergewöhnliches Dekret des
Monarchen verlangte: Abul Fazl, der dicke Weise; Raja Birbal mit
seinem messerscharfen Verstand; der Finanzminister Raja Todar Mal;
Raja Man Singh, oberster Befehlshaber der Armee; der weltfremde
Mystiker Fakir Aziauddin und der deutlich weltlichere Priester
Mullah Do Piaza, der lieber kochte als betete und folglich von Abul
Fazl überaus geschätzt wurde; die großen Dichter Faizi sowie Abdul
Rahim und dann noch der Musiker Tansen. Der Herrscher saß wie
gewöhnlich oben auf dem Baum, doch war er in höchst absonderlicher
Laune. Mit gesenktem Kopf machte er den ganz und gar
unherrschaftlichen Eindruck eines gewöhnlichen Sterblichen, der
schrecklich unter einer persönlichen Misere litt. Lange Zeit sagte
er kein Wort und ließ dem Prozess seinen Lauf.
Die Mannschaft des Piratenschiffes Scathath stand dicht zusammengedrängt auf einer Seite, ein knurrender Haufen, gleich hinter der makabren Gestalt des einbeinigen, eine Augenklappe tragenden Arztes, den man zum Sprecher erkoren hatte. Doch dies war nicht jener Lobegott Hawkins, wie ihn der Angeklagte erinnerte, kein weinerlicher Hahnrei, dem er mühelos seinen Willen aufdrängen konnte. Nein, dieser Hawkins war vornehm angezogen und hatte eine grimmige Miene aufgesetzt. Als er den Gefangenen in den Gerichtssaal kommen sah, deutete er auf ihn und rief mit schallender Stimme: «Da steht er, Uccello, der Schuft, der den Botschafter wegen seines Goldes ermordet hat!»
«Gerechtigkeit!», brüllten die Seeleute und -
weniger edel: «Wir wollen unser Gold zurück!» Der Angeklagte, der
nur ein langes weißes Hemd trug und dem die Hände auf den Rücken
gebunden worden waren, nahm die unheilvolle Szene in sich auf der
Monarch, die neun Richter, die Kläger und die schmale Empore mit
unbedeutenderen Höflingen, die sich in das kleine Gemach drängten,
um Zeugen der Verhandlung zu sein, unter ihnen, auffällig im
schwarzen Jesuitengewand, die beiden christlichen Priester, Pater
Rodolfo Acquaviva und Pater Antonio Monserrate, die darauf achten
sollten, dass die Männer aus dem Westen Gerechtigkeit und
vielleicht auch ihr Geld bekamen, für das sie so weit gereist
waren. Der Angeklagte begriff, wie sehr er sich verschätzt hatte.
Ihm war der Gedanke gar nicht in den Sinn gekommen, diese Meute
könnte ihn verfolgen, wenn sie erst einmal ihren Kapitän tot
daliegen sah, also hatte er auch seine Spuren nicht verwischt. Ein
hochgewachsener gelb haariger Mann, der in einem Ledermantel
buntester Farben in einem Ochsenkarren stand, bot keinen
gewöhnlichen Anblick auf Indiens Straßen. Außerdem waren sie viele,
er war nur einer, sein Fall schien aussichtslos. «Hier am Hofe»,
sagte Abul Fazl, «kennt man ihn unter anderem Namen.»
Pater Acquaviva wurde erlaubt, sich mittels seines persischen
Dolmetschers zu Wort zu melden. «Mogor dell’Amore ist doch
überhaupt kein Name», verkündete er mit vernichtender Stimme. «Die
Worte bedeuten: ein unehelich geborener Mogul, Worte, die viel
riskieren und gewiss so manch einen beleidigen. Wer diesen Namen
annimmt, gibt kund, dass er wünscht, für einen illegitimen Prinzen
gehalten zu werden.»
Seine Aussage sorgte für allerhand Bestürzung am Hofe. Der
Herrscher ließ den Kopf noch tiefer sinken, bis sein Kinn
schließlich auf der Brust ruhte. Abul Fazl wandte sich dem
Angeklagten zu. «Nennt mir Euren wahren Namen!», forderte er ihn
auf. «Denn <Uccello> ist doch gewiss nur eine weitere
Maske.»
Der Gefangene blieb stumm. Dann aber erklang von oben her-ab
plötzlich die Donnerstimme des Herrschers. «Den Namen», brüllte er
und hörte sich wie eine überlaute Ausgabe von Lobegott Hawkins an,
der über die Untreue seiner portugiesischen Geliebten klagte. «Zum
Teufel noch mal! Den Namen, farangi, oder es kostet Euch das
Leben.»
Der Gefangene sprach. «Ich heiße Vespucci», sagte er leise.
«Niccolo Vespucci.»
«Noch eine Lüge», ließ Acquaviva über seinen
Dolmetscher einwerfen. «Vespucci, dass ich nicht lache.» Und er
lachte laut, ein vulgäres, okzidentales Lachen, das Lachen eines
Volkes, das glaubt, Hüter des Gelächters der Welt zu sein. «Er ist
wirklich ein schamloser, verlogener Dieb, und diesmal hat er einen
großen florentinischen Namen gestohlen.,,
An dieser Stelle unterbrach ihn Raja Birbal. «Mein Herr,,, sagte er
zum Jesuiten, «wir sind dankbar für Euren früheren Redebeitrag,
doch erspart uns bitte diese Art von Anschuldigungen. Wir haben es
mit einem eigenartigen Fall zu tun. Ein schottischer Adliger ist zu
Tode gekommen, so viel steht fest, und das finden wir alle
bedauerlich. Der Brief, den er unserem Herrscher überbringen
sollte, wurde vom Angeklagten ausgehändigt; auch das steht fest,
doch wird ein Postbote nicht dadurch zum Mörder, dass er den Brief
eines Toten überbringt. Die Schiffsmannschaft sagt aus, sie habe
nach langer Suche sieben verborgene Kammern in der Kajüte des
Kapitäns entdeckt, nur waren alle sieben leer. Wer aber hat sie
ausgeräumt? Das lässt sich nicht mit Gewissheit sagen.
Möglicherweise enthielten sie Gold oder Juwelen, vielleicht aber
waren sie auch schon vorher leer. Der Schiffsarzt, Doktor Hawkins,
hat unter Eid ausgesagt, er sei nun der Überzeugung, dass der
verstorbene Lord an den tödlichen Folgen einer Vergiftung mit
Laudanum starb, doch hat er sich selbst Tag und Nacht um den
Kranken bis zur Stunde seines Todes gekümmert, also klagt er
vielleicht nur jemand anderen an, um die eigene Schuld zu
vertuschen. Die Kläger halten den Gefangenen des Diebstahls für
schuldig, doch hat er getreulich jene eine Sache abgeliefert, von
der wir mit Sicherheit wissen, dass er sie an sich genommen hat,
nämlich das Sendschreiben der englischen Königin; und was das Gold
betrifft, so war unter seiner Habe keine Spur davon zu finden, auch
nicht vom Laudanum.,, Er klatschte in die Hände, und ein Diener
trat ein, der die Kleider des Gefangenen brachte, darunter den
Mantel aus Lederflicken. «Wir haben seine Garderobe durchsucht,
ebenso die Tasche, die er im Hatyapul, dem Haus mit dem üblen
Leumund, zurückließ, und fanden das Sammelsurium eines
Trickbetrügers - Spielkarten, Würfel, Schwindelkram aller Art, gar
einen lebendigen Vogel-, doch keinen großen Reichtum an Juwelen
oder Gold. Was sollen wir also glauben? Dass er ein gewitzter Dieb
ist, der seine Beute gut versteckt hat? Dass er gar kein Dieb ist,
da es nichts zu stehlen gab? Oder dass dort drüben die Diebe stehen
und einen unschuldigen Mann anklagen? Mit diesen Möglichkeiten
haben wir es zu tun. Die Vielzahl seiner Kläger spricht natürlich
gegen den Gefangenen, doch so viele es auch sind, könnten darunter
durchaus viele Schurken sein.»
Der Monarch sprach mit gewichtiger Stimme von oben herab. «Ein
Mann, der einen falschen Namen trägt, wird auch in anderer Hinsicht
lügen», sagte er. «Lassen wir den Elefanten entscheiden.»
Wieder wurde heftiges Gemurmel laut, ein entsetztes,
erwartungsvolles Gezischel. Raja Birbal blickte bekümmert drein.
«Jahanpanah», sagte er, «Schirmherr der Welt, erinnert Ihr Euch an
die bekannte Geschichte vom Hütejungen und dem Tiger?»
«Falls wir uns recht erinnern», erwiderte Akbar, «hatte der
verlogene Hütejunge so oft <Tiger, Tiger> gerufen, bloß um
die Leute in seinem Dorf zu ärgern, dass ihm kein Mensch zu Hilfe
eilte, als er tatsächlich von einem Tiger angegriffen
wurde.»
«Jahanpanah», sagte daraufhin Birbal, «das ist die Geschichte einer
Horde unwissender Dorfbewohner. Ich aber bin mir sicher, der König
der Könige würde es nicht zulassen, dass ein Junge vom Tiger
gefressen wird, auch wenn dieser Junge nur ein treuloser,
unehelicher Spitzbube sein sollte.»
«Vielleicht nicht», antwortete der Herrscher störrisch, «doch in
diesem Fall würden wir uns freuen, wenn ihn der Elefant
zertrampelte.»
Birbal begriff, dass der Herrscher sich wie ein
Mann benahm, der sich von seiner Liebe enttäuscht fühlte, weshalb
er weitere Argumente zur Begnadigung anführen wollte, als der
Angeklagte eine Äußerung von sich gab, die jede Rettung endgültig
unmöglich machte. «Ehe Ihr mich tötet, großer Herrscher»,
behauptete der Fremde kühn, «muss ich Euch warnen, denn solltet Ihr
gegen mich vorgehen, werdet Ihr verflucht sein, und Eure Stadt wird
zu Staub zerfallen. Ich stehe nämlich unter einem mächtigen Zauber,
der Wohlstand jenen bringt, die mich beschützen, aber allen mit
Verderben droht, die mir schaden.»
Der Monarch schaute ihn an wie ein flügellahmes Insekt, das er
gleich zerquetschen wollte. «Wie interessant», sagte er, «denn wir,
Herr Uccello, Mogor oder Vespucci, wir haben diese mächtige Stadt
um den Schrein von Scheich Salim Chishti errichtet, dem größten
Heiligen ganz Indiens, und sein Segen schützt uns und bringt
unseren Feinden Verderben. Da fragen wir uns doch, welche Macht
wohl größer ist: die Eures Zauberers oder die unseres
Heiligen?»
«Meinen Zauber sprach die mächtigste Zauberin der bekannten Welt»,
sagte der Fremde, und die ganze Versammlung konnte vor Lachen nicht
an sich halten. «Ach, eine Frau», sagte der Herrscher. «Wie
furchterregend.
Doch genug! Werft den Bastard dem irren Elefanten vor und lasst uns
sehen, was die Ränke seines Weibs dagegen auszurichten
vermögen.»
Der zweite Prozess gegen den Mann mit den drei Namen fand in Hirans
Garten statt. Es war einer Laune des Herrschers zu verdanken, dass
sein Lieblingselefant nach einem hiran benannt worden war, einem
Hirsch, und vielleicht hatte das arme Tier allein deshalb nach
Jahren treuer Dienste seinen Verstand verloren und musste
angekettet werden, denn Namen sind gar mächtig, und wenn sie nicht
zu ihrem Träger passen, werden sie zur bösen Kraft. Doch selbst als
der Elefant irre geworden war (und danach blind,, weigerte sich der
Herrscher, ihn töten zu lassen. Er bekam sein Gnadenbrot und einen
Ehrenplatz, einen eigenen Stall mit gepolsterten Wänden, damit er
sich während seiner Tobsuchtsanfalle nicht verletzte. Hin und
wieder aber wurde er, wenn dem Herrscher der Sinn danach stand,
hervorgeholt, um ihm in doppelter Funktion zu dienen, als Richter
und Scharfrichter.
Es schien angemessen, dass der Mann, der unter falschem Namen reiste, von einem Elefanten gerichtet werden sollte, den der eigene, aus einer Laune heraus erteilte Name in den Wahn getrieben hatte. Hiran, der blinde, irre Elefant, war im Garten des Richterspruchs angepflockt worden. Ein kräftiges Seil, das man um einen im Sand vergrabenen Stein geschlungen hatte, hinderte ihn daran, Amok zu laufen. Er trompetete, brüllte, trat um sich, und seine Elfenbeinzähne blitzten wie Schwerter durch die Luft. Der Hof versammelte sich, weil man sehen wollte, wie es dem Mann mit den drei Namen erging, und auch die Öffentlichkeit wurde zugelassen, weshalb es viele Zeugen für das Wunder gab. Die Hände waren ihm nicht länger auf den Rücken gebunden, doch sollte die wiedergewonnene Freiheit ihm keineswegs zur Rettung verhelfen, sondern ihm nur ermöglichen, mit ein wenig Würde zu sterben, statt wie ein verschnürtes Paket zertrampelt zu werden. Der Mann aber streckte die Hände zum Elefanten aus, und alle, die zugegen waren, sahen, wie der Elefant sich beruhigte und zuließ, dass er ihn streichelte. Alle, die anwesend waren, ob von edler oder einfacher Herkunft, schnappten nach Luft, als der Elefant den Rüssel sanft um den Gefangenen schlang und ihn in die Höhe hob. Alle sahen, wie der gelbhaarige Fremde auf Hirans breiten Rücken gesetzt wurde, als wäre er ein Prinz.
Der Herrscher beobachtete das Wunder vom
fünfstöckigen, Panch Mahal genannten Pavillon aus, Raja Birbal an
seiner Seite. Beide Männer rührte der Vorfall zutiefst. «Wir sind
es, die irre und blind waren, nicht unser armer Elefant», sagte
Akbar zu seinem Minister. «Verhaftet die Schurkenbande auf der
Stelle und bringt ihr unschuldiges Opfer in unsere Gemächer, sobald
der Mann gewaschen und angemessen eingekleidet wurde.»
«Der Elefant hat ihn nicht umgebracht, das stimmt», sagte Birbal,
«aber bedeutet es auch, dass er unschuldig ist, ]ahanpanah? Hätten
die Seeleute den weiten Weg vom Meer hierher auf sich genommen, um
ihn anzuklagen, wenn sie selbst die Schuldigen sind? Wären sie da
nicht besser beraten gewesen, wenn sie einfach davongesegelt
wären?»
«Immer gegen den Strom rudern, nicht wahr, Birbal?», erwiderte
Akbar. «Bis vor einer Minute wart Ihr noch der eifrigste Anwalt
dieses Mannes, und jetzt, da er freigesprochen wurde, richten sich
Eure Zweifel gegen ihn. Nun, lasst mich ein Argument vorbringen,
gegen das Ihr nichts einwenden könnt. Das Urteil des Elefanten wird
in seiner Wirksamkeit um ein Vielfaches verstärkt, wenn es vom
Herrscher gebilligt wird. Ist Akbar mit Hiran einer Meinung,
vervielfacht sich die Weisheit des Elefanten, bis sie selbst die
Eure übertrifft.»
Verkleidet als Frau, suchte Umar der Ayyar die
Mannschaft der Scathath in ihren Zellen auf. Ein Schleier verdeckte
sein Gesicht, und er bewegte sich grazil wie eine Frau, sodass die
Seeleute nicht schlecht über die Anwesenheit einer Dame an diesem
Ort der Steine und Schatten staunten. «Sie}} nannte ihnen nicht
«ihrem} Namen, sondern unterbreitete ihnen nur einen nüchternen
Vorschlag. Der Herrscher sei von ihrer Schuld keineswegs überzeugt,
sagte der Ayyar, weshalb er sich bereit erkläre, Signor Vespucci
unter Beobachtung zu stellen, bis er sich selbst verrate, wie es
alle Verbrecher letztlich tun. Falls sie dem Andenken des
verstorbenen Lords wirklich einen Gefallen erweisen wollten, würden
sie sich mit der trüben Aussicht abfinden, im Verlies den Tag von
Vespuccis Überführung abzuwarten. Sollten sie sich tatsächlich
diesem unerfreulichen Schicksal stellen, sagte Umar, könne ihre
Unschuld schließlich zweifelsfrei bewiesen werden, und der Regent
würde Vespucci mit all seiner Macht verfolgen und ihn am Ende
gewiss auch zur Strecke bringen. Doch ließe sich unmöglich
vorhersagen, ob sie kurz oder lange warten müssten, und Verlies sei
nun einmal Verlies, daran ließ sich nicht rütteln; es bestehe auch
keine Möglichkeit, ihnen die bitteren Tage zu versüßen. «Dennoch»,
verkündete Umar, «ist der Verbleib in der Zelle die einzig
ehrenwerte Wahl.» Andernfalls, fuhr er fort, sei er (<<sie»,
auch befugt, ihre «Flucht» in die Wege zu leiten. Sollten sie sich
dazu entschließen, würde man sie zum Schiff zurückbegleiten und
dort freilassen, doch wäre es dann unmöglich, den Fall Vespucci
noch einmal aufzurollen, da man ihre Flucht als Beweis ihrer Schuld
verstünde; und falls sie doch in dieses Königreich zurückkehren
sollten, würde man sie ohne weitere Umstände für den Mord an Lord
Hauksbank hinrichten. «Diese Wahl lässt Euch der Herrscher in
seiner Weisheit», gab der Eunuch mit so ernster wie weiblicher
Stimme kund.
Die Mannschaft der Scathath bewies praktisch auf der Stelle einen
eklatanten Mangel an Ehrgefühl. «Behaltet den nieder-trächtigen
Mörder», sagte Lobegott Hawkins, «wir wollen nach Hause.» Umar der
Ayyar musste seine aufwallende Verachtung unterdrücken. Den
Engländern war auf dieser Erde keine Zukunft beschieden, sagte er
sich. Ein Volk, das den Gedanken eines persönlichen Opfers von sich
wies, würde nur allzu bald wieder aus den Annalen der Geschichte
getilgt werden.
Als der frisch mit eigenem Namen versehene
Niccolo Vespucci in die Gemächer des Herrschers gebracht wurde,
erneut in eigenen Kleidern, den vielfarbigen Ledermantel verwegen
wie ein Cape über die Schulter geworfen, war er gänzlich der Alte
und grinste schelmisch wie ein Zauberer, dem ein unmöglicher Trick
gelungen war, so als hätte er einen Palast verschwinden lassen,
wäre unversehrt durch eine Flammenmauer geschritten oder hätte
dafür gesorgt, dass ein irrer Elefant sich in ihn verliebte. Birbal
und den Herrscher verblüffte sein großspuriges Gehabe. «Wie ist
Euch das gelungen?», wollte der Herrscher wissen. «Warum hat Hiran
Euch nicht umgebracht?» Vespucci verzog das Gesicht zu einem noch
breiteren Grinsen. «Es war Liebe auf den ersten Blick», sagte er.
«Euer Elefant hat Euch treu gedient, und fraglos hat er an mir,
Eurem erst so kürzlich gewonnenen Freund und Gefährten, einen Hauch
Eures vertrauten Parfüms wahrgenommen.»
Machen wir es nicht alle so?, fragte sich der Herrscher. Dieser
Hang zur charmanten Lüge, dieses ewige Schönreden der Wirklichkeit,
diese mit Pomade geglättete Wahrheit? Sind die spitzbübischen
Kapriolen dieses Mannes der drei Namen nur ein Abbild unserer
eigenen Narretei? Ist die Wahrheit für uns etwa ein zu armselig
Ding? Gibt es irgendeinen Menschen, der nicht des Guten zu viel
täte? Bin «ich» keinen Deut besser als er? Vespucci dachte
unterdessen über Vertrauen nach. Er, der niemandem vertraute, hatte
einer Frau vertraut, und sie hatte ihn vor dem Tode bewahrt. Von
einem Skelett gerettet, dachte er. Wahrlich, eine wundersame Mär.
Er holte seine Schätze aus dem Versteck, das Gold gewann wieder
Gewicht, sobald er es aus dem Zaubermantel holte, die Juwelen lagen
schwer in seiner Hand; und er gab ihr alles. «So unterwerfe ich
mich deiner Macht,,, sagte er. «Wenn du mich bestiehlst, kann ich
nichts dagegen tun.»
«Du verstehst nicht, antwortete sie. «Du hast längst weit größere
Macht über mich erlangt, als dass ich mich ihr je entziehen
könnte.»
Er verstand sie tatsächlich nicht auf Anhieb; und sie wusste weder,
wie sie das Wort «Liebe» aussprechen sollte, noch konnte sie das
unerwartete Aufkeimen dieser Gefühlsregung erklären. So war es
letztlich ein Geheimnis, das ihn davor bewahrt hatte, als Dieb
überführt zu werden, und als man ihn für den Elefanten
vorbereitete, ihm die Fessel von den Händen nahm und einen
Augenblick gewährte, damit er seinen Schöpfer bitten konnte, gnädig
mit ihm zu sein, wenn er vor ihn trat, begriff er, dass Skelett
auch diese Möglichkeit vorhergesehen hatte, zog aus dem Versteck,
in das bei einer Durchsuchung niemand gerne schaut, jene winzige
Phiole, die den perfekt nachgeahmten Duft des Herrschers enthielt,
narrte so den blinden alten Elefanten und rettete sich selbst das
Leben.
Der Herrscher sprach. Der Augenblick, den er sich erhofft hatte,
war gekommen. «Nun, Kerl, wie auch immer Ihr heißen mögt», sagte
Akbar. «Schluss mit all den Winken und Andeutungen, Eure Geschichte
gehört endlich erzählt. Heraus damit, und zwar rasch, ehe wir
unsere gute Laune verlieren.»
Als Hiran, der Elefant, sich den Fremden auf seinen Rücken setzte,
als wäre er ein Mogulprinz, hatte der Reiter plötzlich begriffen,
wie er anfangen musste. Ein Mann, dachte er, der seine Geschichte
stets mit denselben Worten erzählt, wird schnell als ein Lügner
entlarvt, der sein Märchen allzu gut eingeübt hat. Es war wichtig,
an anderer Stelle zu beginnen. «Euer Majestät», sagte er daher,
«Herrscher über alle Herrscher, Schutzschirm der Welt. Ich habe die
Ehre, Euch davon in Kenntnis zu setzen, dass ich … » Die Worte
erstarben ihm auf den Lippen, und er stand vor dem Regenten wie ein
Mann, den die Götter mit Stummheit geschlagen haben. Akbar zürnte.
«Hört nicht auf, Mann», sagte er. «Spuckt endlich die verdammte
Geschichte aus, werdet sie ein für alle Mal los.» Der Fremde
hüstelte und hub erneut an.
«Dass ich, mein Herrscher, niemand anders bin als … » «Als
was?»
«Mein Herrscher, ich bringe es nicht über die Lippen.» «Aber Ihr
müsst.»
«Nun gut - doch fürchte ich Eure Reaktion.»
«Nichtsdestotrotz.»
«Dann, mein Herrscher, erfahrt nun, dass ich … » «Ja?» (Ein tiefer
Atemzug, dann der Sprung ins kalte Wasser.,
8. Wenn für die Männer am Hof der Moguln …
Wenn für die Männer am Hofe der Moguln das
Leben zu unverständlich wurde, suchten sie Antwort bei den alten
Frauen. Kaum hatte «Niccolo Vespucci», der sich «Mogor dell’Amore»
nannte, seinen bemerkenswerten Verwandtschaftsanspruch erhoben,
schickte der Herrscher Boten in die Frauengemächer, zu seiner
Mutter Hamida Bano und zu seiner Tante Gulbadan Begum. «Soweit wir
wissen», sagte er zu Birbal, «haben wir keinen Onkel ungeklärter
Herkunft, außerdem ist der fragliche Anwärter auf diesen Titel zehn
Jahre jünger als wir, gelbhaarig und ohne jedes wahrnehmbare
Tschagatai - doch ehe wir den nächsten Schritt unternehmen, sollten
wir die Frauen fragen, die Bewahrer der Geschichten, die uns gewiss
Näheres mitteilen können.» Akbar zog sich mit seinem Minister in
eine Ecke des Raumes zurück, versank in ein angeregtes Gespräch und
ignorierte den potentiellen Hochstapler so gründlich, dass dieser
anfing, sich zu fragen, ob er eigentlich noch existierte. War er
tatsächlich hier, in der Gegenwart des Großen Moguls, und
behauptete, mit ihm blutsverwandt zu sein? Oder war dies nur eine
Opiumhalluzination, aus der er lieber bald erwachen sollte? War er
einem elefantösen Tod entronnen, nur um wenige Augenblicke später
Selbstmord zu begehen? Birbal sagte zu Akbar: «Vom Krieger Argalia
oder Arcalia, den der Kerl nannte, habe ich noch nie gehört, und
Angelica ist ein Vorname bei fremden Völkern, nicht bei uns.
Allerdings wurden wir bislang auch noch nicht darüber in Kenntnis
gesetzt, welche Rolle die beiden in der großen Geschichte spielen,
dem goldenen Märchen. Aber lasst uns diese Leute nicht allein auf
Grund ihrer Namen abtun, wissen wir doch, dass sich ein Name ändern
kann.» Raja Birbal hatte sein Leben als armer Brahmanenjunge namens
Mahesh Das begonnen, und Akbar war es gewesen, der ihn an den Hof
gebracht und in den Adelsstand erhoben hatte. Während die beiden
Freunde auf die eminenten Damen warteten, schwelgten sie in
Erinnerungen und waren wieder jung. Akbar hatte sich auf der Jagd
verirrt. «He da, kleiner Mann! Welcher Weg führt nach Agra?», rief
der Herrscher, und Birbal, wieder sechs, sieben Jahre alt,
erwiderte mit ernster Miene: «Keiner der Wege führt irgendwohin.» -
«Das ist unmöglich», schalt ihn Akbar, und der kleine Birbal
grinste. «Wege führen nicht, sie führen nie», sagte er, «aber
Reisende nach Agra schlagen gewöhnlich jenen Weg dort ein.» Dieser
Scherz hatte den Jungen einst an den Hof gebracht und ihm einen
neuen Namen, ein neues Leben geschenkt.
«Ein Onkel?», sagte Akbar nachdenklich. «Ein Bruder meines Vaters?
Meiner Mutter? Der Mann unserer Tante?» - «Oder», ergänzte Birbal
im Interesse der Vollständigkeit, «auch wenn es weit hergeholt
klingen mag: der Sohn eines Nachfahren Eures Großvaters.» Der
Fremde spürte unter ihrem scheinbaren Ernst eine gewisse
Belustigung aufblitzen und begriff, dass man mit ihm spielte. Das
Reich hielt alle Trümpfe in der Hand, während es über sein
Schicksal entschied. Es sah nicht gut für ihn aus!
Kreuz und quer durch das ausgedehnte Gelände der herrschaftlichen
Residenz verliefen mit Tüchern verhängte Korridore, auf denen sich
die Damen des Hofes, vor ungehörigen Blicken geschützt, von einem
Gebäude zum anderen begeben konnten. Durch einen dieser Korridore
glitten die Königinnenmutter Hamida Bano und ihre oberste
Palastdame Prinzessin Gulbadan wie zwei mächtige Fregatten durch
einen viel zu schmalen Kanal; in ihrem Gefolge Bibi Fatima, die
Vertraute der Königin. «Jiu», sagte die Königin (das war ihr
Kosename für die ältere Schwägerin,, «welchen Unsinn hat der kleine
Akbar jetzt wieder ausgeheckt? Braucht er denn noch mehr Familie,
als er schon hat?» «Schon hat», wiederholte Bibi Fatima, die sich
die schlechte Angewohnheit zugelegt hatte, ein Echo ihrer Herrin zu
sein. Prinzessin Gulbadan schüttelte den Kopf. «Er weiß, wie
geheimnisvoll die Welt ist», erwiderte sie, «und dass sich auch die
seltsamste Geschichte als wahr erweisen mag.» Diese Antwort kam
derart unerwartet, dass die Königin verstummte, und die Frauen
nebst Dienerin schwebten ohne ein weiteres Wort zu den Gemächern
des Monarchen.
Es war ein böiger Tag, und die reich bestickten Tücher, die sie vor den Blicken der Männer schützten, flatterten aufgeregt wie Segel im Wind. An ihren prunkvollen Gewändern, den weiten Röcken, langen Blusen, den um Kopf und Gesicht gewickelten Stoffbahnen der Sittsamkeit, zupfte gleichfalls manch ein Luftzug. Je näher sie Akbar kamen, desto mächtiger wurde der Wind. Vielleicht ist dies ein Omen, dachte die Königin. All unsere Gewissheiten werden fortgeweht, sodass wir von nun an in Gulbadans Welt der Geheimnisse und Zweifel leben müssen. Hamida Bano, eine energische, herrische Frau, hatte für das Konzept des Zweifels nichts übrig. Sie war der Meinung, genau zu wissen, was was ist; in diesem Wissen war sie erzogen worden und hielt es für ihre Pflicht, entsprechende Erkenntnisse an jedermann so deutlich wie möglich weiterzugeben. Wenn der Herrscher nicht mehr genau wusste, was was ist, machte sich seine Mutter auf den Weg, ihm wieder Klarheit zu verschaffen. Nur schien Gulbadan seltsamerweise anderer Ansicht zu sein.
Seit Gulbadans Rückkehr von ihrer Pilgerfahrt
nach Mekka war sie sich offenbar in vielen Dingen nicht mehr so
sicher wie zuvor. Fast schien es, als wäre ihr Glaube an die
festen, unabänderlichen Wahrheiten des göttlichen Kosmos durch die
große Reise eher geschwächt als gestärkt worden. Nach Hamida Banos
Ansicht war der von Gulbadan organisierte Frauenhadsch, dem sich
nahezu ausschließlich die älteren Damen des Hofes angeschlossen
hatten, bereits als solcher ein Hinweis auf die unerwünscht
revolutionäre Seite des monarchischen Führungsstils ihres Sohnes.
«Ein Frauenhadsch?», hatte sie ihn gefragt, als Gulbadan das Thema
zum ersten Mal aufbrachte. Wie konnte er dergleichen nur billigen?
Nein, bekräftigte sie, sie würde sich ganz gewiss nicht auf den Weg
nach Mekka begeben, unter keinen Umständen. Doch dann hatte sich
ihre Mitkönigin Salima der Pilgerfahrt angeschlossen, auch Sultanam
Begum, die Frau von Askari Khan, der Akbars Leben gerettet hatte,
als seine Eltern ihn im Stich ließen und ins Exil gingen -
Sultanam, die dem kleinen Akbar eine bessere Mutter gewesen war als
sie selbst; auch Babars tscherkessische Frau reiste mit, Akbars
Stiefcousinen und Gulbadans Enkeltochter sowie viele Dienerinnen
und sonst noch allerlei Frauen. Dreieinhalb Jahre fort am heiligen
Ort! Das lange persische Exil hatte der Königin auch den letzten
Wunsch in Sachen Reisen ausgetrieben, und allein den Gedanken an
die dreieinhalb Jahre fand sie grässlich. Sollte Gulbadan ruhig
nach Mekka aufbrechen! Die Königinmutter würde jedenfalls weiterhin
daheim regieren.
In diesen dreieinhalb Jahren der Stille und Ruhe, frei von
Gulbadans endlosem Geplapper, war Hamida Banos Einfluss auf den
Herrscher ungebrochen gewesen. Bedurfte man einer Frau, um eine Ehe
oder einen Friedensvertrag auszuhandeln, war sie die einzige
verfügbare Dame von Rang. Akbars eigene Königinnen waren bloß
Mädchen, das Phantom natürlich ausgenommen, diese gespenstische
Sexbombe, die sämtliche schmutzige Literatur auswendig kannte, doch
war es unnötig, an die allzu viele Gedanken zu verschwenden. Als
aber Gulbadan heimkehrte und jetzt Gulbadan die Pilgerin hieß, kam
es zu einer Änderung im Machtgefüge. Merkwürdig war bloß, dass die
alte Prinzessin seither nur wenig über Gott redete, dafür aber
endlos über Frauen, über deren ungenutzte Kraft und ihre Fähigkeit,
eigentlich alles zu können, was sie sich vornahmen, weshalb sie
sich auch mit den Einschränkungen nicht länger abzufinden
brauchten, die ihnen von den Männern auferlegt wurden, sondern das
Leben in die eigenen Hände nehmen sollten. Wenn Frauen den Hadsch
schafften, konnten sie auch Berge erklimmen, Lyrik schreiben und
die Welt allein regieren. Es war ein Skandal, keine Frage, aber der
Herrscher liebte solche Einfälle und fand jede Neuerung entzückend,
fast, als hätte er nie aufgehört, ein Kind zu sein, und verliebte
sich immer noch in jede neu aufblitzende Idee, als wäre sie eine
silberne Rassel im Kindergarten, die mit dem Ernst eines
rechtschaffenen Erwachsenenlebens nichts zu tun hatte.
Dennoch: Prinzessin Gulbadan war die Ältere, und die Königinmutter würde ihr stets den gebührenden Respekt zollen. Ach, und außerdem war es einfach unmöglich, Gulbadan nicht zu mögen; sie lächelte gern und wusste immer lustige Geschichten über irgendeine verrückte Cousine zu erzählen. Außerdem war sie eine gute, liebenswerte Seele, auch wenn ihr Kopf bis an den Rand mit diesen neuen Vorstellungen von Unabhängigkeit vollgestopft zu sein schien. Menschen sind keine Einzelwesen, sagte Hamida Bano ihr dann, sie kommen im Plural vor, ihr Leben wird durch ein Flechtwerk von Kräften bestimmt, und schüttelt man willkürlich an einem Ast, wer kann da schon wissen, welche Frucht einem auf den Kopf fällt? Gulbadan aber lächelte dann nur und ging ihrer eigenen Wege. Jedermann hatte sie gern, die Königinmutter auch, gerade das war ja so eigenartig. Das und die Tatsache, dass Gulbadan den Körper einer jungen Frau besaß, im Alter so rank und schlank wie in ihrer Jugend. Der Leib der Königinmutter hatte über die Jahre auf bequeme und traditionelle Weise nachgegeben, hatte sich zusammen mit dem Reich des Sohnes ausgedehnt und war jetzt selbst eine Art Kontinent, ein Reich mit Bergen und Wäldern, über denen die Hauptstadt ihres Geistes residierte, der keineswegs nachgelassen hatte, nein, kein bissehen. Ich sehe aus, wie eine alte Frau aussehen sollte, dachte Hamida Bano. So ist es normal. Die Beharrlichkeit, mit der Gulbadan darauf bestand, weiterhin jung zu wirken, war nur ein weiterer Beleg für ihren gefährlichen Mangel an Respekt für Traditionen. Durch die Frauentür betraten sie die Gemächer des Herrschers und setzten sich wie gewohnt hinter den reichverzierten Wandschirm aus Walnussholz mit eingelegtem Marmor, und natürlich begann die alte Gulbadan gleich auf gänzlich falschem Fuß. Sie hätte den Fremden nicht direkt anreden dürfen, doch da ihr zu Ohren gekommen war, er beherrsche ihre Sprache, kam sie gleich zur Sache. «Heda, Fremder», trompetete sie in scharfem, hohem Ton. «Also, was ist das für ein Märchen, das Euch um die halbe Welt zu uns geführt hat?,,
Dies sei die Geschichte, wie sie ihm selbst
erzählt wurde, schwor der Fremde. Seine Mutter sei eine Prinzessin
von echtem Tschagatai-Blut, eine direkte Nachfahrin von Dschingis
Khan, Angehörige des Hauses Timur und Schwester des ersten
Mogulherrschers über Indien, den sie nur den «Biber» nannte. Als er
dies sagte, fuhr hinter dem Wandschirm ein Ruck durch Gulbadan
Begum., Er kenne keine Daten, keine Ortsnamen, nur die Geschichte,
wie man sie ihm erzählt habe, die er nun getreulich wiedergebe. Der
Name seiner Mutter sei Angelica, und sie sei, beharrte er, eine
Mogulprinzessin, die schönste Frau, die je gelebt habe, eine
Zauberin ohnegleichen, Herrin über magische Tränke und Bannsprüche,
deren Macht weithin gefürchtet war. In ihrer Jugend wurde ihr
Bruder, König Biber, in Samarkand von einem usbekischen
Kriegerfürsten namens Lord Wurmholz belagert, der verlangte, Biber
solle sie ihm als Pfand überlassen, wenn er nach seiner
Kapitulation sicheres Geleit aus der Stadt haben wolle. Um Angelica
zu demütigen, überließ Lord Wurmholz sie eine Weile seinem jüngsten
Wasserträger Bacha Saqaw, auf dass er sich nach Belieben mit ihr
verlustiere. Zwei Tage später war Bacha Saqaw am ganzen Leib mit
Furunkeln übersät, Pestbeulen wuchsen ihm unter den Armen sowie in
der Leistengegend, und als sie platzten, starb er. Danach legte
niemand mehr Hand an die Hexe - bis sie Wurmholz’ linkischen
Annäherungen schließlich nachgab. Zehn Jahre vergingen, dann wurde
Lord Wurmholz in der Schlacht von Marv an den Ufern des Kaspischen
Meeres vom persischen Schah Ismail besiegt und Angelica aufs Neue
zur Kriegsbeute.
O, jetzt spürte auch Hamida Bano, wie ihr Puls schneller
schlug.
Gulbadan Begum beugte sich vor und flüsterte ihr ein Wort ins Ohr.
Die Königinmutter nickte, und Tränen schossen ihr in die Augen.
Teilnahmsvoll begann auch ihre Dienerin Bibi Fatima zu
weinen
Der persische König wurde seinerseits besiegt von dem osmanischen
Sultan…
Die Frauen hinter dem Wandschirm konnten nicht
länger an sich halten, und Königin Hamida Bano war kaum weniger
aufgewühlt als ihre so leicht erregbare Schwägerin. «Mein Sohn»,
verlangte sie mit lauter Stimme, «kommt herüber zu uns» - «zu uns»,
echote Bibi Fatima -, und der König der Könige gehorchte. Gulbadan
flüsterte ihm etwas ins Ohr, und der König erstarrte. Akbar wandte
sich mit aufrichtig überraschter Miene zu Birbal um. «Die Frauen
sagen», berichtete er, «ein Teil dieser Geschichte sei bereits
bekannt. Baboor, soll heißen <Babar>, ist ein altmodisches
Tschagatai-Wort für Biber, und der Name dieses <Wurm-holz>
ist seinerseits mit Shiban oder Shaibani Khan zu übersetzen;
außerdem wurde die Schwester meines Großvaters Babar, allgemein
bekannt als die größte Schönheit ihrer Zeit, nach Babars Niederlage
tatsächlich von jenem samarkandischen Kriegsfürsten gefangen
genommen; und als Shaibani ein Jahrzehnt später in der Nähe der
Stadt Marv von Schah Ismail von Persien besiegt wurde, fiel Babars
Schwester in persische Hände.»
«Entschuldigt, Jahanpanah», warf Birbal ein, «aber wenn ich nicht
irre, handelte es sich dabei um die Prinzessin Khanzada, nicht
wahr? Und die Geschichte der Prinzessin Khanzada ist natürlich
bekannt. Wie ich selbst erfuhr, gab Schah Ismail sie als eine Geste
des guten Willens zurück an Schah Babar, woraufhin sie bis zu ihrem
traurigen Dahinscheiden allseits respektiert im Schoße der
königlichen Familie lebte. Es ist wahrhaft erstaunlich, dass der
Fremde diese Geschichte kennt, doch kann er kein Nachfahre der
Prinzessin sein. Sicher, sie hat Shaibani einen Sohn geboren, doch
ist der Junge am selben Tag wie sein Vater von der Hand des
persischen Herrschers gestorben, womit die Behauptungen dieses
Kerls also hinfällig wären.»
Daraufhin riefen die königlichen Damen hinter dem Wandschirm wie
aus einem Mund: «Es gab noch eine zweite Prinzessin!»« … zessin!»,
echote die Dienerin. Gulbadan sammelte sich. «0 strahlender
Herrscher», hob sie an, «in der Geschichte unserer Familie gibt es
ein geheimes Kapitel.»
Der Mann, der sich «Mogor dell’ Amore» nannte, stand stumm im
Herzen des Mogulreiches, während die aufgebrachten Frauen begannen,
die Genealogie ihres Familienzweiges aufzulisten. «Erlaubt mir, 0
allwissender Herrscher, Euch daran zu erinnern, dass diversen
Ehefrauen und Gespielinnen diverse Prinzessinnen geboren wurden»,
sagte Gulbadan, und der Herrscher seufzte leise, denn wenn Gulbadan
begann, wie ein aufgeregter Papagei den Stammbaum zu erklimmen,
ließ sich nie sagen, auf wie viele Zweige sie hüpfen würde, ehe sie
endgültig irgendwo zur Ruhe kam. Doch heute war seine Tante
erschreckend präzise. «Es gab Mihr Banu, Shahr Banu und Yadgar
Sultan.»
«Nur war Yadgars Mutter Agha keine Königin», warf Hamida hochmütig ein. «Sie war nur eine Konkubine.» « … kubine», echote Bibi Fatima pflichtbewusst.
«Allerdings», fügte die Königin dann hinzu,
«muss gesagt werden, dass Khanzada an Jahren zwar die Erste war, im
Aussehen aber keineswegs, auch wenn man sie offiziell zur schönsten
Frau erklärte. Einige der jungen Konkubinen waren viel
hübscher.»
«0 höchst erleuchteter Herrscher», fuhr Gulbadan fort, «ich muss
Euch leider mitteilen, dass Khanzada ein über die Maßen
eifersüchtiges Weib gewesen ist.»
Dies war die Geschichte, die von der alten Gulbadan so lange verschwiegen worden war. «Es hieß allgemein, Khanzada sei hübsch, da sie die Älteste war und man ihr besser nicht in die Quere kam. In Wahrheit aber war die jüngste Prinzessin viel schöner, und sie hatte auch eine schöne Spielgefährtin und Leibdienerin, eine junge Sklavin, die ebenso hübsch aussah und ihrer Herrin auf eine Weise glich, dass die Leute anfingen, sie den <Spiegel der Prinzessin> zu nennen. Als Khanzada dann von Shaibani gefangen genommen wurde, nahm man auch die Prinzessin und ihren Spiegel gefangen, nur als Schah Ismail dann Khanzada befreite und nach Hause an Babars Hof zurückschickte, blieben die verschwiegene Prinzessin und ihr Spiegel in Persien. Deshalb wurde sie schließlich auch aus der Familiengeschichte gelöscht:
Sie hatte es vorgezogen, unter Fremden zu leben, statt einen Ehrenplatz in ihrer eigenen Heimat einzunehmen.»«La specchia», warf der Fremde plötzlich ein. «Das Wort für Spiegel endet eigentlich mit 0 und verlangt einen männlichen Artikel, doch ihr zuliebe verlieh man ihm einen weiblichen. La specchia, die kleine Spiegelfrau.»
Die Geschichte purzelte nun so rasch hervor, dass man das Protokoll vergaß und den Fremden für seine Unterbrechung nicht maßregelte. Es war Gulbadan mit ihrer hohen, sich über-stürzenden Stimme, die das Reden übernahm. Die Geschichte der verschwiegenen Prinzessin und ihres Spiegels drängte darauf, erzählt zu werden. Hamida Bano aber hing ihren Erinnerungen nach. Die Königin war wieder jung mit einem kleinen Kind im Arm und floh mit ihrem Mann Humayun in der Stunde seiner Niederlage vor den gefährlichsten Männern der Welt: seinen Brüdern. In den Einöden Kandahars war es dermaßen kalt dass heiße Suppe schon gefror; wenn man sie nur in eine Schale gab, weshalb man sie nicht trinken konnte. Eines Tages waren sie so hungrig, dass sie ein Pferd töteten, zerteilten und Fleischbrocken in einem Soldatenhelm kochten, ihrem einzigen Topf Und dann wurden sie angegriffen, und Hamida Bano musste fliehen und ihr Kind allein zurücklassen, musste es den Gefahren eines Schlachtfeldes aussetzen, ihr Kind, ihren Jungen, und so wurde der Kleine schließlich von einer anderen Frau erzogen, dem Weib Askans, des Bruders ihres Mannes und dessen Feind, von Sultanam Begum also, die für Hamidas Jungen tat, was sie selbst nicht tun konnte, für ihren Sohn, für den Herrscher.
«Verzeih mir», flüsterte sie («…mir»), sagte Bibi Fatima, doch der Herrscher hörte nicht zu, da er sich mit Prinzessin Gulbadan in unbekannte Gewässer vorwagte. «Sie kehrte nicht mit Khanzada heim, weil sie - ja -, weil sie verliebt war.» Verliebt in einen Fremden, ihm so verfallen, dass sie es wagte, ihrem Bruder, dem König, zu trotzen und seinem Hof fernzubleiben, obwohl es ihre Pflicht gewesen wäre zurückzukehren und edlere Gefühle sie hätten ermahnen müssen, dass sie zu ihrer Familie gehörte. In seinem Zorn tilgte Babar, Biber, seine jüngere Schwester aus der Geschichte und erließ die Anordnung, dass ihr Name aus allen Unterlagen gestrichen und von keinem Mann und keiner Frau in seinem Reich mehr in den Mund genommen werden sollte. Trotz ihrer Liebe zu ihrer Schwester gehorchte Khanzada Begum, und nach und nach verblasste die Erinnerung an die verschwiegene Prinzessin und ihren Spiegel. So wurden sie schließlich zu einem bloßen Gerücht, einer in Menschenmengen nur halb aufgeschnappten Geschichte, einem Flüstern im Wind, und von damals bis zum heutigen Tage ward kein Wort mehr von ihnen gehört.
«Der persische König wurde seinerseits von dem osmanischen Sultan besiegt», fuhr der Fremde fort. «Und so kam es, dass die Prinzessin schließlich in Begleitung eines mächtigen Kriegers nach Italien verschlagen wurde. Argalia und Angelica, so lauteten ihre Namen. Argalia trug verzauberte Waffen, und zu seinem Gefolge gehörten vier schreckliche Riesen; an seiner Seite aber ritt Angelica, Prinzessin von China und Indien; die schönste Frau der Welt und eine Zauberin ohnegleichen.»
«Wie hieß sie nun wirklich?», fragte der
Herrscher, ohne den Fremden zu beachten. Die Königinmutter
schüttelte den Kopf. «Ihren Namen habe ich nie gehört», antwortete
sie, und Prinzessin Gulbadan sagte: «Ihr Spitzname liegt mir auf
der Zunge, aber der eigentliche Name ist mir vollständig
entfallen.»
«Angelica», sagte der Fremde. «Sie hieß Angelica.»
Hinter dem Wandschirm hervor war Prinzessin
Gulbadan zu hören: «Eine gute Geschichte, und wir sollten
herausfinden, woher der Kerl sie hat, aber es gibt da ein Problem,
und ich weiß nicht, ob wir es zu unserer Zufriedenheit lösen
können.»
Birbal hatte natürlich gleich begriffen, worum es ging. «Es ist
eine Frage der Zeit», sagte er. «Der Zeit und des Alters der
Beteiligten.»
«Würde Khanzada Begum heute noch leben», sagte
Prinzessin Gulbadan, «wäre sie einhundertundsieben Jahre alt. Ihre
jüngste Schwester, acht Jahre jünger als Babar, müsste demnach
inzwischen etwa fünfundneunzig sein. Dieser Fremde, der hier vor
uns steht und eine Geschichte aus unserer Vergangenheit ausgräbt,
ist kaum älter als dreißig oder einunddreißig Jahre. Wenn also die
verschwiegene Prinzessin nach Italien reiste, wie dieser Kerl hier
behauptet, und wenn er tatsächlich ihr Sohn ist, wie er des
Weiteren versichert, dann müsste sie bei seiner Geburt etwa
vierundsechzig Jahre alt gewesen sein. Sollte nun diese wundersame
Schwangerschaft wirklich stattgefunden haben, wäre er wahrlich Euer
Onkel, der Sohn der Schwester Eures Großvaters, was ihn
berechtigte, als Prinz des königlichen Hauses anerkannt zu werden.
Doch das ist natürlich völlig unmöglich.» Der Fremde spürte, wie
sich vor seinen Füßen ein Grab auftat, und er wusste, man würde ihm
nicht mehr lange Gehör schenken. «Ich habe doch gesagt, dass ich
mich mit Daten und Ortsnamen nicht auskenne», rief er, «aber meine
Mutter war jung und schön und ganz gewiss keine sechzigjährige
Vettel.»
Die Frauen hinter dem Wandschirm blieben stumm, und in dieser
Stille wurde sein Schicksal besiegelt. Schließlich ergriff Gulbadan
Begum wieder das Wort. «Es ist nun einmal wahr, dass er uns erzählt
hat, was tief vergraben lag. Hätte er nichts gesagt, hätten wir
alte Frauen diese Geschichte mit in unser Grab genommen. Also hat
er wohl verdient, dass wir uns im Zweifel für ihn
aussprechen.»
«Und doch habt Ihr selbst uns zweifelsfrei dargelegt,,, warf der
Herrscher ein, «dass seine Geschichte nicht stimmen
kann.»
«Im Gegenteil», erwiderte Prinzessin Gulbadan. «Es gibt nämlich
zwei mögliche Erklärungen.,,
«Die erste lautet», hörte die Königinmutter Hamida Bano sich sagen,
«dass die verschwiegene Prinzessin wahrlich eine außerordentliche
Zauberin gewesen sein muss, da sie das Geheimnis der ewigen Jugend
entdeckte und deshalb körperlich wie geistig noch eine junge Frau
war, als sie diesen Mann gebar, obwohl sie in Wirklichkeit schon
fast siebzig gewesen sein dürfte.»
Der Herrscher hieb mit der Faust an die Wand.
«Vielleicht habt ihr auch den Verstand verloren, und nur aus dem
Grund glaubt ihr diesen ausgesprochenen Schwachsinn», brüllte er,
doch Prinzessin Gulbadan beruhigte ihn, wie man ein kleines Kind
besänftigt. «Ihr habt meine zweite Erklärung noch nicht
gehört.»
«Nun gut», grollte der Herrscher. «Redet, Tante.» Mit übertriebenem
Nachdruck sagte Gulbadan Begum daraufhin: «Nehmen wir einmal an,
die Geschichte dieses Kerls sei wahr und die verschwiegene
Prinzessin sei wirklich vor langer Zeit mit ihrem Krieger nach
Italien gereist. Dann könnte doch auch wahr sein, dass die Mutter
dieses Kerls nicht die Geliebte des mächtigen Kriegers war sondern
die Tochter der Prinzessin.»
Akbar hatte begriffen.
«Aber wer ist dann sein Vater?»
«Das», warf Birbal ein, «ist genau der Haken an dieser
Geschichte.»
Mit einem Seufzer resignierter Neugier wandte sich der Herrscher
zum Fremden um. Der Widerwille eines Regenten gegen Außenstehende,
die allzu viel wissen, dämpfte seine unverhoffte Zuneigung für
diesen Mann. «Der hindustanische Geschichtenerzähler weiß stets,
wann er die Aufmerksamkeit seines Publikums verliert», sagte er,
«denn die Leute stehen einfach auf und gehen oder bewerfen ihn mit
Gemüse; und manchmal, falls zum Publikum der Herrscher gehört, wird
der Geschichtenerzähler auch kopfüber von der Stadtmauer geworfen.
In Eurem Falle, mein verehrter Mogulonkel, sind Publikum und
Herrscher eins.»
In Andijon wurden die Fasane so fett, dass vier Männer an einem einzigen Vogel mehr als genügend zu essen hatten. Veilchen wuchsen am Ufer des Andijon, einem Nebenfluss des Jaxartes, auch Syrdarja genannt, und im Frühling blühten Tulpen und Rosen. Andijon, der Stammsitz der Moguln, lag in der Provinz Ferghana, «die sich wiederum», so stand es in der Autobiographie seines Großvaters, «im fünften Himmelsstrich am Rande der zivilisierten Welt befindet». Der Herrscher hatte das Land seiner Vorfahren nie gesehen, kannte es aber aus Babars Buch. Ferghana lag in Zentralasien an der großen Seidenstraße, östlich von Samarkand und nördlich der mächtigen Gipfel des Hindukusch. Hier wuchsen prächtige Melonen sowie herrliche Weintrauben, und man konnte sich an weißem Hochwild und mit Mandelcreme gefüllten Granatäpfeln gütlich tun. Überall gab es Flüsse, gutes Weideland in den nahen Bergen und rotrindige Spiersträucher, deren Holz sich ausgezeichnet für Pfeile und Peitschengriffe eignete, und im Gebirge wurden Türkis und Eisen abgebaut. Den Frauen sagte man nach, dass sie schön seien, doch wusste der Herrscher, dass derlei Ansichtssache war. Babar, der Eroberer von Hindustan, hatte hier das Licht der Welt erblickt, auch Khanzada Begum und ebenso (obwohl alle Berichte über ihre Geburt gelöscht worden waren, die Prinzessin ohne Namen.
Kaum hatte Akbar die Geschichte der
verschwiegenen Prinzessin vernommen, befahl er seinem
Lieblingsmaler Dashwanth, sich mit ihm am Ort der Träume beim
besten aller möglichen Becken zu treffen. Als Akbar seinerzeit mit
kaum vierzehn Jahren den Thron bestiegen hatte, war Dashwanth ein
allem Anschein nach dummer und schrecklich schwermütiger Junge
gleichen Alters gewesen, dessen Vater zu den Sänftenträgern des
Herrschers gehörte. Insgeheim aber war Dashwanth ein großer
Zeichner, dessen Genie sich immer deutlicher bemerkbar machte.
Nachts, wenn er sicher sein konnte, dass niemand ihn beobachtete,
malte er Graffiti auf die Mauern von Fatehpur Sikri - keine
obszönen Bilder oder Worte, sondern Karikaturen der Mächtigen am
Hofe, die er so grausam akkurat traf, dass alle Welt entschlossen
war, seiner habhaft zu werden, um ihm so rasch wie möglich die
satirischen Hände abzuschlagen. Akbar rief Abul Fazl und den
obersten Gebieter des königlichen Ateliers, den Perser Mir Sayyid
Ali, zu sich an den Ort der Träume. «Ihr solltet ihn vor seinen
Feinden finden», sagte er, «denn wer auch immer er sein mag, wir
wollen nicht, dass ein solches Talent sein Ende durch das Schwert
eines aufgebrachten Edelmannes findet.» Eine Woche später kehrte
Abul Fazl zu ihm zurück und zog ein kleines, dunkles, mageres
Kerlchen am Ohr hinter sich her. Dashwanth wand sich und
protestierte lauthals, doch Abul Fazl zerrte ihn bis vor seinen
Herrscher, der Pachisi mit menschlichen Figuren spielte. Mir Sayyid
Ali folgte dem Missetäter wie ein Gefangenenwärter auf dem Fuße,
und es gelang ihm, zugleich begeistert und grimmig dreinzuschauen.
Der Herrscher blickte kurz von seinen menschlichen Spielfiguren
auf, den hübschen schwarzen Sklavinnen, die wartend auf dem
Pachisi-Brett ausharrten, befahl Dashwanth, sich auf der Stelle ins
herrschaftliche Atelier zu begeben, und verbot jedermann am Hofe,
ihm ein Leid anzutun.
Selbst die oberste Hebamme Maham Anaga, des Herrschers
niederträchtige Tante, wagte angesichts dieses Befehls nicht, gegen
Dashwanth vorzugehen, obwohl keines seiner Werke so grausam und
prophetisch gewesen war wie jenes Porträt, das er von ihr und ihrem
Sohn Adham gezeichnet hatte. Ihre Karikatur war an der Außenmauer
des Bordells Hatyapul aufgetaucht. Zur allgemeinen Belustigung der
einfachen Menschen wurde Maham Anaga als meckernde, blaugesichtige
Hexe dargestellt, umgeben von blubbernden Tinkturen, wohingegen ihr
schniefender, mörderischer Sohn Adham nur als Spiegelbild in einer
der größeren Glasretorten zu sehen war, wie er kopfüber von der
Stadtmauer stürzte. Als Adham sechs Jahre später bei einem
wahnwitzigen Umsturzversuch über Akbar herfiel und vom Herrscher
später dazu verurteilt wurde, von den Stadtmauern geworfen zu
werden, erinnerte sich der Monarch mit Erstaunen an Dashwanths
Prophezeiung. Aber Dashwanth sagte, er könne sich nicht daran
erinnern, und da das Bild schon vor langer Zeit von der
Bordellmauer abgewischt worden war, musste sich der Herrscher
allein auf sein Gedächtnis verlassen und konnte sich nur staunend
fragen, wie sehr sein Wachleben wohl von seinen Träumen bestimmt
war. Dashwanth wurde rasch zu einem der gefragtesten Künstler in
Mir Sayyid Alis Atelier, und er machte sich einen Namen damit,
bärtige, auf verzauberten Kesseln durch die Luft fliegende Riesen
zu malen, haarige, picklige Kobolde, Devs genannt, gewaltige
Meeresstürme, blaugoldene Drachen und himmlische Hexenmeister, die
helfend eine Hand aus den Wolken streckten, um Helden vor Schaden
zu bewahren, Bilder also, mit denen er die wilde, phantasievolle
Einbildungskraft des jugendlichen Herrschers nährte. Immer und
immer wieder malte er den legendären Helden Hamza auf seinem
dreiäugigen Märchenpferd, wie er die unglaublichsten Ungeheuer
besiegte, und er begriff besser als jeder andere Künstler im
vierzehn Jahre dauernden Hamza-Zyklus, dem ganzen Stolz des
Ateliers, dass er der Traumbiographie des Herrschers Ausdruck gab,
dass seine Hand zwar den Pinsel hielt, es jedoch die Visionen des
Regenten waren, die vor ihm auf der Leinwand Gestalt annahmen. Ein
Herrscher ist die Summe seiner Taten, und wie bei Hamza, seinem
Widerpart, bewies sich Akbars Größe nicht nur durch das triumphale
Überwinden enormer Hindernisse - den Sieg über widerspenstige
Prinzen, echte Drachen und dergleichen mehr -, sie wurde durch
solche Triumphe erst geboren. Der Held auf Dashwanths Bildern wurde
zum Spiegelbild des Herrschers, und alle einhundertein im Atelier
arbeitenden Künstler konnten von Dashwanth lernen, sogar die
persischen Meister Mir Sayyid Ali und Abdus Samad. In ihren
gemeinschaftlichen Gemälden von den Abenteuern Hamzas mit seinen
Freunden wurde das Hindustan der Mogulzeit buchstäblich erfunden;
in der Vereinigung der Künstler kündigte sich die Einheit des
Reiches an und machte sie vielleicht überhaupt erst möglich.
«Zusammen malen wir des Herrschers Geist», bekannte Dashwanth
bekümmert seinen Mitstreitern. «Und wenn seine Seele dereinst den
Körper verlässt, findet sie in diesen Bildern ihre Ruhe und wird
durch sie unsterblich.» Trotz seines künstlerischen Könnens war es
Dashwanth nie gelungen, seine Depressionen gänzlich zu überwinden.
Er heiratete nie und lebte das zölibatäre Leben eines rishi, eines
Weisen also, im Laufe der Jahre verdüsterte sich seine Stimmung
sogar noch, und es gab lange Phasen, in denen er überhaupt nicht
arbeiten konnte, sondern nur in seiner kleinen Zelle im Atelier
hockte und stundenlang in eine leere Ecke starrte, als kauerte dort
eines jener Ungeheuer, die er viele Jahre lang mit solcher
Meisterschaft gemalt hatte. Trotz seines zunehmend seltsamen
Betragens schätzte man ihn aber auch weiterhin als einen der besten
Maler Indiens, der sein Handwerk noch unter den beiden persischen
Meistern Mir Sayyid Ali und Abdus Samad gelernt hatte, jenen
Künstlern, die viele Jahre zuvor mit Akbars Vater Humayun aus dem
Exil in dessen Heimat gekommen waren. Folglich war es Dashwanth,
den Akbar zu sich rief, als ihm der Gedanke kam, er könnte des
Großvaters bittere Tat rückgängig machen und der verschwiegenen
Prinzessin endlich einen Platz in der Geschichte seiner Familie
einräumen. «Male sie in die Welt», trug er Dashwanth auf, «denn
deinen Pinseln wohnt eine derartige Zauberkraft inne, dass sie
vielleicht lebendig wird, von Eurer Leinwand herabsteigt und mit
uns feiert und Wein trinkt.» Des Herrschers eigene, Leben spendende
Kräfte waren vorübergehend von der gewaltigen Anstrengung
erschöpft, die es ihn kostete, seine imaginäre Frau Jodha zu
erschaffen und am Leben zu erhalten, weshalb er in diesem Fall
nicht selbst tätig werden konnte, sondern sich auf die Kunst
verlassen musste.
Dashwanth machte sich sogleich daran, auf einer Reihe
außerordentlicher Folios, die selbst die Hamza-Bilder übertrafen,
das Leben von Akbars verlorener Großtante darzustellen. Ganz
Ferghana erweckten sie zum Leben: die dreitorige,
wasserverschlingende Festung Andijon - neun Ströme flossen hinein,
keiner floss wieder hinaus - und die zwölf Berggipfel über der
Nachbarstadt Osh, die wilde Wüste, in der die zwölf Derwische sich
in einem grimmigen Sturm verloren, und die vielen Schlangen des
Landes, die Rehböcke und Hasen. Auf dem ersten Bild, das Dashwanth
fertigstellte, zeigte er die verschwiegene Prinzessin als schönes,
vierjähriges Mädchen, das mit einem Körbchen durch die herrlichen
Wälder der YetiKent-Berge spazierte und die Blätter und Wurzeln der
Tollkirsche sammelte, um damit ihre Augen glänzender zu machen,
vielleicht aber auch, um ihre Feinde zu vergiften; außerdem fand
das Mädchen größere Mengen jener mythischen Pflanze, die von den
Einheimischen ayi’qoti” genannt wurde, auch als Alraune bekannt.
Die Alraune - die All-Rune - war eine Verwandte des tödlichen
Nachtschattengewächses und sah ihr oberirdisch recht ähnlich, doch
steckten in der Erde Wurzeln mit menschlicher Gestalt, und sie
schrien laut, wenn man sie herauszog, gerade so, wie Menschen
schreien würden, wollte man sie lebendig begraben. Ihre magische
Macht benötigte keine weitere Erklärung, und wer dieses erste Bild
sah, dem war klar, dass Dashwanth die verschwie- gene Prinzessin
mit seinen außerordentlichen intuitiven Fähigkeiten als eine
geborene Erleuchtete zeigte, die instinktiv wusste, womit sie sich
schützen und der Menschen Herz erobern konnte, was sich, wie so
oft, als ein und dasselbe erwies.
Das Bild selbst bewirkte eine Art Wunder, denn kaum betrachtete die
alte Prinzessin Gulbadan es in Akbars Privatgemächern, erinnerte
sie sich an den Namen des Mädchens, der ihr doch schon seit Tagen
so schwer auf der Zunge lag, dass sie kaum noch essen konnte. «Ihre
Mutter war Makhdum Sultan Begum», sagte Gulbadan, während sie sich
zur leuchtenden Leinwand vorbeugte, und sie sprach so leise, dass
sich der Herrscher ebenfalls vorbeugen musste, um sie verstehen zu
können. «Makhdum, ja, so hieß ihre Mutter, die letzte große Liebe
von Umar Scheich Mirza. Und die Kleine hieß Qara Köz - Qara Köz,
genau, das war’s! Khanzada hat sie aus tiefster Seele gehasst, wenn
auch natürlich nur bis zu dem Tag, an dem sie beschloss, das
Mädchen stattdessen zu lieben.»
Gulbadan erinnerte sich an die Geschichten, die man sich über die
Eitelkeit der Khanzada Begum erzählt hatte. Jeden Morgen, wenn Dame
Khanzada sich erhob (berichtete sie dem Herrscher, musste ihre
oberste Hofdame ausrufen: «Seht her, sie erwacht, Khanzada Begum,
die schönste Frau der Welt schlägt die Augen auf und betrachtet das
Reich ihrer Schönheit.» Und wenn sie ihrem Vater Umar Scheich Mirza
ihre Aufwartung machte, verkündeten die Herolde: «Seht her, hier
kommt sie, Eure Tochter, die schönste Frau der Welt, sie, deren
Schönheit Eurer Macht in nichts nachsteht», und wenn sie das
Boudoir ihrer Mutter betrat, hörte Khanzada Ähnliches von der
Drachenkönigin, von Qutlugh Nigar Khanum, aus deren Augen Flammen
schlugen und Rauch aus ihren Nüstern, denn lauthals trompetete sie
beim Eintreffen ihrer Tochter: «Khanzada, schönste Tochter der
Welt, komm her, bereite meinen alten Augen ein Fest.» Dann aber
wurde Makhdum Sultan Begums jüngste Prinzessin geboren, und vom
Tage ihrer Geburt an nannte man sie Qara Köz, was schwarze Augen
heißt, besaßen ihre Augäpfel doch die außergewöhnliche Macht, jeden
zu bezaubern, auf den ihr Blick fiel. Seit diesem Tag musste
Khanzada eine leichte Änderung im Tonfall ihrer täglichen
Verherrlichungen feststellen, ein Maß an Unaufrichtigkeit, das sie
nicht mehr akzeptabel fand. In den folgenden Jahren gab es eine
Serie von Mordanschlägen auf das kleine Mädchen, die aber in keinem
Fall zu Khanzada zurückverfolgt werden konnten. So fand sich etwa
Gift in einer Tasse Milch, von der Schwarzauge trank, doch blieb
das Mädchen unversehrt, wohingegen sein Schoßhund, dem es den
letzten Schluck überlassen hatte, gekrümmt vor Schmerzen starb.
Später wurden einem anderen Getränk zerstoßene Diamanten
beigemengt, um das schöne Kind jenen schrecklichen Tod sterben zu
lassen, den man auch «Feuertrank» nannte, doch richteten die
Diamanten in ihr keinen Schaden an, weshalb der Mordversuch auch
erst aufgedeckt wurde, als eine Kammerzofe den königlichen Abtritt
putzte und die Steine im Kot der Prinzessin blitzen sah.
Als offenkundig wurde, dass Schwarzauge übermenschliche Kräfte besaß, hörten die Mordanschläge auf, und Khanzada Begum überwand ihren Stolz, änderte ihre Taktik und begann, die kindliche Rivalin zu verhätscheln und verzärteln. Es dauerte nicht lange, da war die ältere Halbschwester dem Zauber des jüngeren Mädchens erlegen, und bald erzählte man sich am Hofe von Umar Scheich Mirza, seine jüngste Tochter sei die Wiederverkörperung der legendären Alanquwa, der mongolischen Sonnengöttin, der Urahnin von Temüdschin, von Jenghis oder Dschingis Khan, die sich, da sie über das Licht herrschte, auch die Geister der Dunkelheit dienstbar zu machen wusste, indem sie mit Erleuchtung drohte und so die Schatten löschte, wo immer sie sich verbargen. Ein religiöser Kult der Sonnenanbetung entstand rund um das heranwachsende Kind.
Er hielt nicht lange vor. Ihr geliebter Vater, der padishah, der König also, erlag alsbald seinem grausamen Schicksal. Er war zur Feste Akhsi gereist, unweit von Andijon - ach, Akhsi, wo die köstlichen mirtimurti-Melonen wachsen! Akhsi, das Dashwanth direkt am Rand einer tiefen Schlucht malte -, und als er seine Tauben im Verschlag aufsuchte, gab der Boden unter ihm nach, sodass der padishah mitsamt Tauben und Verschlag in die Schlucht stürzte und auf immer verloren war. Schwarzauges Halbbruder Babar wurde mit zwölf Jahren zum Herrscher gekrönt, das Mädchen war damals erst vier Jahre alt. Inmitten dieser Tragödie und des anschließenden Durcheinanders vergaß man Qara Köz’ Macht okkulter Erleuchtung, und Alanquwa, die Sonnengöttin, zog sich wieder an ihren angestammten Platz im Himmel zurück. Den Sturz des Umar Scheich Mirza, des Urgroßvaters des Königs der Könige, zeigte eines von Dashwanths besten Bildern. Der padishah wurde kopfüber vor der Schwärze der Schlucht dargestellt, beiderseits stürzten die Felswände an ihm vorbei, und verborgen im komplizierten Muster des Bildrandes waren Einzelheiten aus seinem Leben zu sehen: eine kleine, dicke Person, gutmütig und redselig, ein Backgammon-Spieler und gerechter Mann, aber auch jemand, der keinen Zweikampf scheute, ein narbengesichtiger Paladin, der zuzuschlagen wusste und wie all seine Nachfahren, wie Babar, Humayun, Akbar und Akbars Söhne Salim, Daniyal und Murad, eine große Vorliebe für Wein und harte Schnäpse hegte, aber auch für jene Süßigkeit, jenen Leckerbissen, der majun genannt und aus der Cannabispflanze hergestellt wurde, eine Delikatesse, die zu seinem plötzlichen Ableben führen sollte. Im majun-Nebel nämlich war er einer Taube zu nahe an den Abgrund gefolgt und in jene Unterwelt gestürzt, in der es nicht darauf ankam, oq man klein, dick, gutmütig, redselig oder gerecht gewesen war, in der es keine Backgammon-Partner gab, keine Zweikampfgegner und wo man bis in alle Ewigkeit vom herrlichen majun-Nebel umhüllt sein mochte.
Dashwanths Bild gewährte einen tiefen Blick in den Abgrund und zeigte die Dämonen, die darauf warteten, den König in ihrem Reich willkommen zu heißen. Das Gemälde erfüllte ganz offenkundig den Tatbestand der lesemajeste, denn auch nur anzudeuten, ein Vorfahre des Herrschers könne ins Inferno gestürzt sein, war ein Verbrechen, das mit dem Tod bestraft werden konnte, ließ es doch die Deutung zu, dass Seine Majestät ein ähnliches Schicksal erwartete. Als aber Akbar das Bild sah, lachte er nur und sagte: «Die Hölle scheint mir ein weitaus angenehmerer Ort zu sein als der Himmel mit all seinen gelangweilten Engeln an der Seite Gottes.» Kaum wurde dem Wassertrinker Badauni dieser Ausspruch überbracht, kam er zu dem Schluss, dass das Reich der Moguln dem Untergang geweiht war, denn Gott würde gewiss keinen Monarchen dulden, der sich vor aller Augen zum Satanisten wandelte. Allerdings überlebte der Herrscher, zwar nicht für immer, aber lange genug, ebenso wie Dashwanth, dem allerdings eine weit kürzere Zeit beschieden war.
Die nächsten Jahre im Leben der kleinen Schwarzauge waren eine unruhige, nomadenhafte Zeit, in der ihr Bruder und Beschützer Babar hin und her galoppierte, Schlachten gewann und verlor, Reiche gewann und verlor, von seinen Onkeln angegriffen wurde und seinerseits seine Vettern angriff, von seinen Vettern umstellt wurde und wiederum seine Onkel angriff, doch dräute hinter all diesen gewöhnlichen Farnilienfehden sein größter Feind, die wilde Usbekenwaise, der Glücksritter, die Pest des Hauses Timur, nämlich Wurmholz - soll heißen «Shaibani» - Khan. Dashwanth malte die fünf-, sechs- und sieben jährige Qara Köz als übernatürliches Wesen, gehüllt in einen Lichtkokon, um den herum die Schlachten tobten. Babar eroberte Samarkand, verlor aber Andijon, dann eroberte er Samarkand aufs Neue, verlor es wieder und damit auch seine Schwestern. Wurmholz Khan belagerte Babar in seiner großen Stadt, und rund um das Eisentor, das Nadelmachertor, das Bleichertor und das Türkistor wurde hart gekämpft, am Ende aber wurde Babar ausgehungert. Wurmholz Khan hatte Gerüchte über die sagenhafte Schönheit von Babars älterer Schwester Khanzada Begum gehört und schickte eine Botschaft, die Besagten, Babar und seine Familie, könnten unbehelligt abziehen, sofern man ihm Khanzada ausliefern würde. Babar blieb keine andere Wahl, als dieses Angebot anzunehmen, und Khanzada blieb keine andere Wahl, als Babars Wahl anzunehmen.
So wurde sie zur Opfergabe, zur menschlichen
Kriegsbeute, zu einer lebenden Schachfigur ähnlich den
Sklavenmädchen auf Akbars Pachisi-Brett. Doch bei der letzten
Familienzusammenkunft in den königlichen Gemächern in Samarkand
traf sie ihre eigene Wahl. Wie die Klaue des Vogels Rock fiel ihre
Rechte auf das linke Handgelenk der kleinen Schwester. «Wenn ich
gehe», sagte sie, «soll Schwarzauge mir Gesellschaft leisten.»
Niemand im Raum hätte sagen können, ob sie aus Boshaftigkeit oder
Liebe handelte, denn in Khanzadas Umgang mit Qara Köz spielten
stets beide Gefühle eine Rolle. Auf Dashwanths Bild von diesem
Vorfall gibt Khanzada eine prächtige Gestalt ab, die mit weit
geöffnetem Mund ihren Trotz verkündet, während Schwarzauge anfangs
wie ein verängstigtes Kind wirkt. Dann aber nehmen den Betrachter
die schwarzen Augen gefangen, und man sieht, welche Macht dahinter
lauert. Qara Köz’ Mund steht ebenfalls offen, denn auch sie
protestiert laut, beklagt ihr Elend und verkündet ihre Kraft. Ihr
Arm ist ausgestreckt wie der ihrer Schwester, ebenso die Rechte,
die sich gleichfalls um ein Handgelenk klammert. War Khanzada die
Gefangene von Wurmholz Khan, dann war sie, Qara Köz, die Gefangene
von Khanzada, und das kleine Sklavenmädchen, Spiegel genannt, würde
ihre Gefangene sein.
Das Gemälde war eine Allegorie über das Boshafte der Macht, wie sie
von einem Mächtigen zum weniger Mächtigen weitergereicht wird.
Menschen werden umklammert, die ihrerseits Menschen umklammern. War
die Macht ein Schrei, dann wurden Leben im Echo der Schreie anderer
Menschen gelebt. Das Echo der Schreie der Mächtigen betäubte die
Ohren der Hilflosen, doch blieb ein letztes Detail zu vermerken:
Dashwanth hatte die Kette der Hände geschlossen. Der Spiegel, das
Sklavenmädchen, dessen linkes Handgelenk fest im Griff ihrer jungen
Herrin ruhte, hatte sich mit ihrer Rechten Khanzada Begums linkes
Handgelenk geschnappt. Sie standen im Kreis, diese drei verlorenen
Geschöpfe, und indem der Maler den Kreis schloss, deutete er an,
dass der Griff der Macht, oder ihr Echo, reversibel ist. Manchmal
konnte ein Sklavenmädchen eine Frau von königlichem Geblüt gefangen
nehmen. Geschichte vermochte sich ebenso nach oben zu hangeln wie
nach unten. Die Mächtigen konnten durch die Schreie der Armen
betäubt werden.
Als Dashwanth die junge Qara Köz malte, die erst während ihrer
Gefangenschaft zur vollendeten Schönheit heranreifte, wurde
offensichtlich, dass eine höhere Macht von seinem Pinsel Besitz
ergriffen haben musste. Was er malte, war so unglaublich schön,
dass Birbal, als er das Bild zum ersten Mal sah, wortwörtlich
sagte: «Ich fürchte um den Künstler, denn er ist so sehr in diese
Frau aus der Vergangenheit verliebt, dass es ihm schwerfallen wird,
in die Gegenwart zurückzufinden.» Das Mädchen, die Heranwachsende,
die liebreizende, schöne junge Frau, die Dashwanth in diesen
Meisterwerken zum Leben erweckte, vielmehr wiedererweckte, musste
einfach, wie Akbar plötzlich begriff, als er das Werk betrachtete,
qara ko’zum sein, die dunkeläugige Schöne, besungen vom
Dichterfürsten Ali-Shir Nava’i aus Herat, dem obersten Verseschmied
der Tschagatai-Sprache. Flicht ein Nest für dich in den Tiefen
meiner Blicke. Ach, dein schlanker Leib gleicht einem jungen Baum,
der im Garten meines Herzens sprießt. Sehe ich eine Schweiß perle
auf deinem Gesicht ist mir plötzlich zum Sterben zumute. Dashwanth
hatte einen Teil der Verse sogar ins Stoffmuster von Qara Köz’
Gewand gemalt: Plötzlich zum Sterben zumute. Kurz nach der
Eroberung Samarkands fiel auch Herat, das so-genannte Florenz des
Ostens, an Shaibani oder Wurmholz Khan, und Khanzada, Qara Köz und
der Spiegel verbrachten einen Großteil ihrer Jahre der
Gefangenschaft in dieser Stadt. Die Welt ist ein Ozean, sagt man,
und im Ozean findet sich eine Perle, und diese Perle ist Herat.
«Wer in Herat die Füße ausstreckt», behauptete Nava’i, «tritt nur
allzu rasch einen Poeten.» 0 sagenhaftes Herat der Moscheen,
Paläste und Basare für fliegende Teppiche! Ja, es war ein
wunderbarer Ort, keine Frage, dachte der Herrscher, doch das Herat,
das Dashwanth malte, wurde durch die Schönheit der verschwiegenen
Prinzessin wie von innen heraus erleuchtet; es war ein Herat, mit
dem kein real existierendes Herat mithalten konnte, ein Traum-Herat
für eine Traum-Frau, in die, wie Birbal schon geahnt hatte, der
Künstler hoffnungslos verliebt war. Dashwanth malte Tag und Nacht,
Woche um Woche und bat um keinen einzigen Ruhetag, ließ sich auch
keinen verordnen. Er wurde noch magerer, seine Augen traten vor.
Die Künstlerkollegen fürchteten um seine Gesundheit. «Er sieht so
gezeichnet aus», murmelte Abdus Samad zu Mir Sayyid Ali, «als ob er
auf die dritte Dimension des wahren Lebens verzichten und sich zu
einem Bild abflachen wollte.» Wie Birbals Bemerkung verriet auch
diese Äußerung eine scharfe Beobachtungsgabe, und die Wahrheit des
Gesagten sollte nur allzu bald offensichtlich werden.
Dashwanths Kollegen begannen, ihn aufmerksam zu beobachten, da er
so melancholisch wurde, dass sie fürchteten, er könne sich ein Leid
antun. Sie beschatteten ihn abwechselnd, was nicht weiter schwierig
war, da er bloß noch Augen für sein Werk hatte, und sie merkten,
wie er dem äußersten Künstlerwahn verfiel, wie er seine Bilder
nahm, sie umarmte und «Atme!» flüsterte.
Er arbeitete an dem, was das letzte Bild der sogenannten Qara-Köz-Nama werden sollte, der «Abenteuer von Schwarzauge». In diesem Wirbel einer transkontinentalen Komposition lag Wurmholz Khan tot in einem Winkel und verblutete ins Kaspische Meer, in dem es von Flossenungeheuern nur so wimmelte. Das restliche Bild zeigte, wie Wurmholz’ Bezwinger, Schah Ismail von Persien, in Herat die Moguldamen begrüßte. Auf dem Gesicht des persischen Monarchen lag ein Ausdruck tief verletzter Melancholie, die den Herrscher an Dashwanths eigene, typische Art zu schauen erinnerte, und er nahm an, der Künstler habe sich mit dieser schmerzlichen Miene in die Geschichte von der verschwiegenen Prinzessin schmuggeln wollen. Doch in Wirklichkeit war Dashwanth noch viel weiter gegangen.
Es muss nämlich gesagt werden, dass es ihm trotz der nahezu lückenlosen Beobachtung durch seine Kameraden gelang, spurlos zu verschwinden. Er ward nicht mehr gesehen, nicht am Hofe der Moguln, auch sonst nirgendwo in Sikri, selbst im ganzen Land Hindustan nicht. Seine Leiche wurde an kein Seeufer gespült, noch fand man sie an einem Balken hängend. Er blieb schlicht verschwunden, als ob es ihn nie gegeben hätte, und fast alle Bilder der Qara-Köz-Nama waren mit ihm verschwunden, nur dieses letzte nicht, auf dem Schwarzauge, die lieblicher aussah, als selbst Dashwanth sie zuvor je malen konnte, von Angesicht zu Angesicht dem Mann gegenübertrat, der ihr Schicksal bestimmen sollte. Das Rätsel wurde von Birbal gelöst, von wem sonst. Eine Woche und einen Tag nach Dashwanths Verschwinden fiel dem weisesten aller Höflinge Akbars, der das letzte verbliebene Bild der verschwiegenen Prinzessin aufmerksam in der Hoffnung studierte, eine Antwort auf die Frage nach dem Verbleib des Künstlers zu finden, plötzlich ein technisches Detail auf, das bislang unbemerkt geblieben war. Es schien, als fände das Gemälde in dem reichverzierten, gut fünf Zentimeter breiten Rahmen, den Dashwanth ihm gesteckt hatte, keine Begrenzung, sondern setzte sich zumindest in der unteren linken Ecke - unter dem Holz noch ein Stück fort. Man brachte das Bild zurück ins Atelier - vom Herrscher persönlich begleitet, ebenso von Birbal und Abul Fazl -, und unter der Aufsicht der beiden persischen Meister wurde es sorgsam aus dem bemalten Rahmen gelöst. Kaum trat der bislang verdeckte Abschnitt zutage, entfuhren den Betrachtern laute Ausrufe des Erstaunens, denn dort in der Ecke, hingekauert wie eine kleine Kröte, hockte Dashwanth mit einem riesigen Bündel Papierrollen unter dem Arm, Dashwanth, der große Maler, der Graffitikünstler, der Sohn eines Sänftenträgers und der Dieb der Qara-Köz-Nama, erlöst in die einzige Welt, an die er noch glaubte, die Welt der verschwiegenen Prinzessin, die er geschaffen und die ihn daraufhin aufgelöst hatte. Ihm war eine unmögliche Tat ge-glückt, das genaue Gegenteil dessen, was der Herrscher gemeistert hatte, als er die imaginäre Königin erfand. Statt eine Frau seiner Phantasie zum Leben zu erwecken, hatte Dashwanth sich - wie der Herrscher allein von der überwältigenden Kraft der Liebe getrieben - in ein imaginäres Wesen verwandelt. Vermochte man die Grenze zwischen den Welten in die eine Richtung zu übertreten, dachte Akbar, ließ sie sich auch in die andere passieren. Ein Träumer konnte zu seinem Traum werden. «Schiebt das Bild wieder in den Rahmen», verlangte Akbar, «und gönnt dem armen Kerl seine Ruhe.» Nachdem dies geschehen war, ließ man Dashwanth in Frieden dort, wohin er gehörte, nämlich an den Rand der Geschichte. Die Mitte der Bühne aber nahmen die wiedergefundene Protagonistin und ihr neuer Liebhaber ein - die verschwiegene Prinzessin Schwarzauge, auch Qara Köz oder Angelica genannt, sowie der Schah von Persien; zwei, die sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden.
10. Wo eines Gehängten Same sich ergießt…«Wo eines Gehängten Same sich ergießt», las Il
Machia laut W vor, «dort auch die Alraune sprießt.» Schon als
Argalia und sein bester Freund Niccolo - «Il Machia» - noch Kinder
in Sant’ Andrea in Percussina gewesen waren, hatten sie davon
geträumt, okkulte Macht über Frauen zu besitzen. Irgendwo in den
Wäldern ihrer Gegend musste doch irgendwann einmal ein Mann gehängt
worden sein, dachten sie sich, weshalb sie viele Monate lang auf
den Gütern von Niccolos Familie nach Alraunen suchten, im
Eichenhain Caffagio, im Gehölz der vallata von Santa Maria
dell’Impruneta, aber auch in dem etwas weiter entfernt gelegenen
Wald bei der Burg Bibbione. Sie fanden allerdings nur Pilze und
eine geheimnisvolle dunkle Blume, von der sie Ausschlag bekamen.
Schließlich sagten sie sich, der Samen für Alraunen müsse doch
gewiss nicht unbedingt von einem Erhängten stammen, und mit
mancherlei Gerubbel und Gekeuch verspritzten sie ein paar kraftlose
Tropfen auf die gleichgültige Erde. Dann aber, als sie zehn Jahre
alt wurden, zierte den Palazzo della Signoria am Ostersonntag eine
Girlande aus baumelnden Toten, da man an besagtem Wochenende auf
Anweisung von Lorenzo de’ Medici achtzig besiegte Pazzi-Verschwörer
an den Fensterkreuzen aufgeknüpft hatte, darunter sogar einen
Erzbischof in vollem Ornat; und wie es der Zufall wollte, befand
sich Argalia mit Machia und seinem Vater Bernardo gerade im Haus
der Familie jenseits des Ponte Vecchio zu Besuch, nur drei, vier
Straßen entfernt; als aber alle Welt in die Stadt lief, hielt auch
sie nichts mehr daheim.
Bernardo folgte ihnen und wirkte mindestens ebenso furchtsam und
aufgeregt wie die beiden Jungen. Er galt als typischer
Stubengelehrter, ein freundlicher, herzensguter Junge, der allem
Blutrünstigen abgeneigt war, doch ein hängender Erzbischof, den
durfte man nicht verpassen, einen solchen Anblick konnte man sich
nicht entgehen lassen. Die Jungen hatten Blechtassen dabei, um
gegebenenfalls einige nützliche Tropfen einzusammeln. Auf der
Piazza trafen sie ihren Freund Agostino Vespucci, der den
Ermordeten schmatzende Luftküsse zuwarf und vor ihnen obszöne
Onaniergesten machte. Den sich im Wind drehenden, stinkenden
Leichen rief er dabei zu: «Scheiß auf euch! Scheiß auf eure
Tochter! Eure Schwester! Eure Mutter, euren Großvater, euren
Bruder, eure Frau und deren Bruder, deren Mutter, deren Schwägerin
und auch deren Mutter». Argalia und n Machia erzählten Ago vom
Alraunenreim, woraufhin der sich eine Tasse schnappte, um sich
damit unter das Gemächt des Erzbischofs zu stellen. Kaum waren die
drei Jungen wieder in Percussina, vergruben sie die beiden Tassen,
murmelten dabei einige vermeintlich satanische Verse und warteten
dann lange und vergeblich darauf, dass die Pflanzen der Liebe zu
sprießen begannen.
«Was als Geschichte über baumelnde Verräter beginnt», sagte Akbar
zu Mogor dell’Amore, «endet meist als verräterische
Geschichte.»
Am Anfang waren drei Freunde: Antonio Argalia, Niccolo «Il Machia»
und Ago Vespucci. Der goldhaarige Ago, der Redegewandteste im Trio,
war ein Kind der Menge, des Gedränges, des Gezänks, ein typischer
Spross der Familie Vespucci, die dicht an dicht im überfüllten
Stadtviertel Ognissanti lebte und Olivenöl, Wein und Wolle über den
Arno in den gonfalone deI drago lieferte, den Drachenbezirk. Er war
mit einer lauten, frechen Klappe gesegnet, denn wer in seiner
Familie nicht laut und frech war, wurde gern im allgemeinen Getöse
der feuerspeienden Vespuccis überhört, die sich gegenseitig
anschrien wie die Apotheker oder Barbiere auf dem Mercato Vecchio.
Agos Vater arbeitete als Notar für Lorenzo de’ Medici, weshalb er
erleichtert war, sich nach diesem Ostern des Erdolchens und
Erhängens auf der Gewinnerseite zu sehen. «Nur fallt jetzt das
verfluchte Heer des Papstes über uns her, weil wir diesen
verdammten Pfaffen getötet haben», brummte Ago. «Außerdem auch noch
das verfluchte Heer des Königs von Neapel.» Agos Vetter, der wilde
vierundzwanzigjährige Amerigo oder Alberico Vespucci, wurde bald
darauf mit seinem Onkel Guido ausgesandt, den König Frankreichs um
Hilfe für die Regentschaft der Medici zu bitten. An dem Funkeln,
das in Amerigos Augen aufblitzte, sobald sie sich auf den Weg nach
Paris machten, war leicht zu erkennen, dass er die Reise selbst
aufregender fand als die Aussicht, dem König zu begegnen. Ago
dagegen gehörte nicht zu denen, die gern verreisten. «Ich weiß, was
ich werden will, wenn ich einmal groß bin», sagte er seinen
Freunden in Percussinas Alraunenwäldern, in denen es keine Alraunen
gab. «Ich werde ein dämlicher Schafsverkäufer, ein Weinhändler
oder, falls ich es irgendwie in den Staatsdienst schaffe, ein
verdammter Schreiberling, ein Kontenbuchkritzler ohne Konto,
Hoffnung oder Zukunft.» Obwohl er der trostlosen Zukunft eines
einfachen Schreiberlings entgegensah, steckte Ago randvoll mit
Geschichten, die ausnahmslos Marco Polos Abenteuern glichen,
phantastische Reiseerzählungen, von denen ihm kein Mensch auch nur
ein einziges Wort glaubte, und doch wollten ihn alle hören, ganz
besonders, wenn er über das schönste Mädchen seit Beginn der
Stadtgeschichte schwadronierte, vielleicht sogar seit Beginn allen
Lebens auf Erden. Erst zwei Jahre war es her, seit Simonetta
Cattaneo (verheiratet mit Agos Vetter Marco Vespucci, den man
hinter seinem Rücken allgemein nur den Gehörnten Marco oder Marco
den Liebesnarr nannte, an Schwindsucht gestorben und ganz Florenz
der Trauer anheimgefallen war, denn Simonetta hatte jene fahle,
blasse Schönheit besessen, die so mächtig war, dass kein Mann ihrer
ansichtig werden konnte, ohne in einen Rausch dahin schmelzender
Anbetung zu versinken, ebenso wie übrigens auch keine Frau und
nahezu die meisten Katzen und Hunde der Stadt; vielleicht hatten
sogar die Krankheiten sie geliebt, weshalb sie schon vor ihrem
vierundzwanzigsten Lebensjahr sterben musste. Simonetta Vespucci
war mit Marco verheiratet gewesen, doch hatte er sie mit der ganzen
Stadt teilen müssen, was er anfangs mit einer Miene der Ergebenheit
duldete, die den Bürgern dieser verschlagenen, gewitzten Stadt nur
verriet, welch Schwachkopf er war. «Eine derartige Schönheit ist
Allgemeingut», pflegte er mit wahrhaft idiotischer Unschuld zu
sagen, «so wie ein Fluss oder das Gold in der städtischen
Schatzkammer, das herrliche Licht und die gute Luft der Toskana.»
Der Maler Alessandro Filipepi malte sie viele Male, vor und nach
ihrem Tod, er malte sie bekleidet und nackt, als Frühling und als
Göttin Venus, sogar als sie selbst. Wenn sie für ihn posierte,
nannte sie ihn oft «mein Fässchen», da sie ihn mit seinem älteren
Bruder verwechselte, den die Leute wegen seiner rundlichen Form
gern «botticelli» nannten, «Fässchen» also. Der jüngere Filipepi,
der Maler, glich nun keineswegs einem Fass, aber wenn Simonetta ihn
so nennen wollte, war das für ihn in Ordnung, weshalb er begann,
auf diesen Namen zu hören.
Der Zauber der Simonetta war von solcher Art, dass sie Männer
beliebig verwandeln konnte, in Götter oder in Schoßhunde, in
Fässchen oder Fußschemel, aber natürlich auch in Liebhaber. Sie
hätte kleinen Jungen befehlen können, für ihre Liebe zu ihr zu
sterben, was sie gewiss freudig getan hätten, doch war sie für
derlei zu gutmütig, und sie hatte ihre Macht nie missbraucht. Die
Verehrung der Simonetta nahm ungeheure Ausmaße an, bis die Menschen
insgeheim sogar begannen, in der Kirche zu ihr zu beten und mit
gedämpfter Stimme ihren Namen zu murmeln, als wäre sie eine lebende
Heilige. Gerüchte von Wundertaten breiteten sich aus: Ihr Liebreiz
habe einen Mann erblinden lassen, als sie auf der Straße an ihm
vorüberging; ein Blinder sei wieder sehend geworden, als sie in
einer plötzlichen Geste des Mitleids ihre Fingerspitzen bekümmert
auf seine gequälte Stirn legte; ein verkrüppeltes Kind habe sich
erhoben, um ihr nachzulaufen; ein anderer Junge sei von einer
schlagartigen Lähmung befallen worden, als er hinter ihrem Rücken
eine obszöne Geste machte. Beide, Lorenzo und Giuliano de’ Medici,
waren so verrückt nach ihr, dass sie ihr zu Ehren einen
Turnierkampf abhielten - Giuliano trug dabei ein Banner mit ihrem
Porträt, gemalt von Filipepi, darunter die französischen Worte: la
sans pareille, womit er bewies, dass er vor seinem Bruder ihre
Gunst errungen hatte. Anschließend hatte man Simonetta in einer
Zimmerflucht des Palastes untergebracht, woraufhin selbst der dumme
Marco merkte, dass mit seiner Ehe etwas nicht stimmte, doch wurde
er gewarnt, es könne ihn das Leben kosten, sollte er dagegen
aufbegehren. Danach war Marco Vespucci der einzige Mann in der
Stadt, der der Schönheit seiner Frau widerstehen konnte. «Sie ist
eine Hure», sagte er in den Tavernen, die er immer häufiger
aufsuchte, um den Gedanken daran zu ertränken, dass er ein
gehörnter Ehemann war, «und ich finde sie so hässlich wie die
Medusa.» Selbst Fremde schlugen ihn zusammen, weil er die Schönheit
von la sam pareille anfocht, bis er letztlich in Ognissanti bleiben
und allein trinken musste. Dann wurde Simonetta krank und starb,
und auf den Straßen von Florenz erzählte man sich, die Stadt habe
ihre Zauberin verloren, ja, ein Teil der städtischen Seele sei mit
ihr dahingegangen, doch hieß es auch, dass sie eines Tages wieder
auferstehen würde, dass die Florentiner nie wieder ganz sie selber
sein würden, ehe sie nicht zurückkehrte, um sie alle wie ein
zweiter Heiland zu erlösen. «Aber», zischelte Ago im Gehölz der
Vallata, «ihr habt keine Ahnung, was Giuliano alles tat, um sie am
Leben zu erhalten: Er hat sie sogar in einen Vampir
verwandelt.»
Laut dem Mann ihrer Cousine rief man den besten
Vampirjäger der Stadt, einen gewissen Domenico Salcedo, in
Giulianos Gemach und befahl ihm, einen jener Blut trinkenden
Untoten aufzutreiben. Am folgenden Abend brachte Salcedo folglich
einen Vampir in das Zimmer des Palastes, in dem die kranke Frau
lag. Der Vampir biss zu, aber Simonetta weigerte sich, der Ewigkeit
als ein Mitglied jenes traurigen, blasshäutigen Menschenschlages
entgegenzusehen. «Kaum begriff sie, dass sie ein Vampir geworden
war, sprang sie hoch oben vom Turm des Palazzo Vecchio herab und
spießte sich auf einer Lanze der Torwache auf. Ihr könnt euch
denken, welche Mühe man hatte, das zu vertuschen.» Auf diese Weise,
so der Mann ihrer Cousine, starb die erste Zauberin von Florenz,
starb ohne jede Hoffnung auf eine Wiederkehr von den Toten. Marco
Vespucci verlor vor Kummer den Verstand. «Marco war ein Trottel»,
sagte Ago mitleidlos. «Wenn ich mit einer so scharfen Braut
verheiratet wäre, würde ich sie in den höchsten Turm sperren, damit
ihr kein Mensch etwas antun kann.» Und Giuliano de’ Medici wurde am
Tag der pazzi-Verschwörung erstochen, während Filipepi, das
Fässchen, sie auch weiterhin malte, immer und immer wieder, als
könnte er sie mit seinen Bildern von den Toten
zurückholen.
«Genau wie Dashwanth» staunte der Herrscher.
«Das könnte der Fluch der menschlichen Rasse
sein» erwiderte Mogot; «nicht dass wir uns so sehr voneinander
unterscheiden, sondern dass wir uns so ähnlich sind.» Die drei
Jungen verbrachten mittlerweile fast jeden Tag im Wald, kletterten
auf Bäume, verspritzten Alraunensamen, erzählten sich verrückte
Geschichten über ihre Familien und beklagten sich über die Zukunft,
um nicht über ihre Angst reden zu müssen, denn kaum war der
Pazzi-Aufstand niedergeschlagen worden, hielt die Pest Einzug in
Florenz, und man hatte die drei Freunde zur eigenen Sicherheit aufs
Land geschickt. Bernardo, Niccolos Vater, blieb in der Stadt und
steckte sich an, doch als sich erwies, dass er zu den wenigen
gehörte, die diese Krankheit überlebten, erzählte sein Sohn den
Freunden, das habe er allein dem magischen Umgang seiner Mutter
Bartolomea mit Maismehl zu verdanken. «Wenn wir krank werden,
schmiert sie uns mit Grießbrei ein», verkündete er mit gewichtiger
Miene, flüsterte aber, damit ihn die Waldkäuzchen nicht hörten. «Je
nach Krankheit nimmt sie entweder gewöhnliche gelbe Polenta oder
kauft, für ernstere Fälle, das weiße Friuli-Mehl ein. Für etwas so
Gefährliches wie die Pest hat sie vermutlich auch Kohl beigemengt
sowie Tomaten und was weiß ich noch für Zaubergemüse. Aber es
klappt. Mama achtet darauf, dass wir uns ganz nackt ausziehen, und
dann löffelt sie uns den heißen Brei über den ganzen Körper, ohne
auch nur daran zu denken, welche Schweinerei sie damit anrichtet.
Der Brei saugt die Krankheit auf, und das war’s. Nun, wie es
aussieht, kommt selbst die Pest nicht gegen Mamas Polenta an.»
Argalia begann, Il Machias verrückte Familie die «Polentini» zu
nennen, und dachte sich sogar Spottlieder für eine imaginäre
Liebste namens «Polenta» aus. «Wäre sie ein Florin, hätte ich sie
vertickt», sang er, «wäre sie ein Buch, würde ich verrückt.» Und
Ago fiel in den Gesang ein: «Wäre sie ein Bogen, hätte ich sie
überspannt, wäre sie eine Kurtisane, hätte ich sie verbannt - meine
süße Polenta.» Irgendwann ärgerte sich Il Machia nicht länger,
sondern sang selbst mit. Wäre sie ein Bote} hätte ich sie gesandt
wäre sie eine Bedeutung, hätte ich sie gekannt. Dann aber wurde
ihnen die Nachricht überbracht, dass Nino Argalias Eltern an der
Pest erkrankt waren und aller Polentazauber der Welt nichts genutzt
hatte, weshalb Argalia noch vor seinem zehnten Lebensjahr zu einem
Waisenkind wurde. Der Tag, an dem Nino in den Eichenhain kam, um Il
Machia und Ago vom Tod seiner Eltern zu erzählen, war auch der Tag,
an dem sie die Alraune fanden. Wie ein verängstigtes Tier hatte sie
sich unter einem abgebrochenen Ast versteckt. «Jetzt brauchen wir
nur noch den Zauberspruch», sagte Ago traurig, «der uns zu Männern
macht, denn was nützt es sonst, wenn die Frauen verrückt nach uns
sind?» Dann kam Argalia, und sie sahen seinen Augen an, dass er den
Zauberspruch gefunden hatte. Sie zeigten ihm die Alraune, er aber
zuckte nur mit den Achseln. «So etwas interessiert mich nicht
mehr», sagte er. «Ich laufe fort nach Genua, um mich der Goldbande
anzuschließen.» Es war der Herbst der condottieri, jener
Glücksritter mit eigenen Söldnerarmeen, die ihre Dienste an die
Stadtstaaten Italiens verkauften, da dies billiger war, als sich
ein stehendes Heer zu halten. Ganz Florenz kannte die Geschichte
von Giovanni Milano, der hundert Jahre zuvor in Schottland als Sir
John Hauksbank zur Welt gekommen war. In Frankreich kannte man ihn
als «Jean Aubainc», in den deutschsprachigen Kantonen der Schweiz
als «Hans Hoch» und in Italien als Giovanni Milano - nach dem
Milan, einem Greifvogel, ähnlich dem englischen hawk oder hauk -,
und er war Anführer der Weißen Gesellschaft gewesen, ehedem General
von Florenz und im Namen der Florentiner Sieger in der Schlacht von
Polpetta gegen die verhassten Venezianer. Paolo Uccello hatte sein
Grabmalfresko geschaffen, das heute noch im Dom zu besichtigen ist.
Doch das Zeitalter der condottieri neigte sich dem Ende
zu.
Argalia zufolge war Andrea Doria der größte noch lebende Söldner,
Anführer der Goldbande und gerade damit befasst, Genua von
französischer Fremdherrschaft zu befreien. «Aber du bist
Florentiner, und wir sind mit den Franzosen verbündet», rief Ago,
der an die Reise seiner Verwandten nach Paris denken musste. «Wird
man Söldner», sagte Argalia und betastete sein Kinn, weil er wissen
wollte, ob ihm dort schon Haare wuchsen, «gehen die Treuebündnisse
der Kindheit flöten».
Andrea Dorias Soldaten waren mit «Hakenbüchsen» bewaffnet, mit
Arkebusen, die beim Schießen wie eine tragbare Kanone auf einem
Dreibein abgelegt wurden. Die meisten Arkebusiere waren Schweizer,
und Schweizer Söldner waren die schrecklichsten Mordmaschinen,
Männer ohne Gesicht oder Seele, unbezwingbar, grauenvoll. Wenn er
erst mit den Franzosen fertig war und das Kommando über Genuas
Flotte besaß, wollte Doria es mit den Türken selbst aufnehmen.
Argalia gefiel die Aussicht auf eine Seeschlacht. «Wir haben
sowieso nie Geld gehabt», sagte er, «und die Schulden meines Vaters
verschlingen die Einkünfte des Stadthauses sowie der wenigen
Ländereien hier draußen, die uns noch geblieben sind, also habe ich
die Wahl, ob ich wie ein armer Hund in den Straßen bettele oder bei
dem Versuch krepiere, mein Glück zu machen. Ihr beide werdet einmal
dick und fett vor lauter Macht, hängt euren Frauen eine Schar
Kinder an und lasst sie dann daheim, wo sie das Geschrei der
kleinen Unholde erdulden müssen, während ihr ins Hurenhaus La
Zingaretta oder zu einer üppig gepolsterten Nobelnutte geht, die
Gedichte rezitieren kann, während ihr auf ihr zappelt und euch dumm
und dämlich vögelt, alldieweil ich auf einer brennenden Karavelle
vor Konstantinopel mit einem türkischen Krummschwert im Leib
verrecke. Aber wer weiß? Vielleicht werde ich auch selbst zum
Türken. Argalia, der Türke, Träger der Verwunschenen Lanze mit vier
mächtigen Schweizer Riesen, vier bekehrten Muslimen in meinem
Ge-folge. Schweizer Mohammedaner, jawohl. Warum auch nicht? Ist man
ein Söldner, zählen allein Schmuck und Gold, und wer das haben
will, der muss nach Osten ziehen.»
«Aber du bist ein Kind wie wir», warf Machia ein. «Willst du nicht
erst einmal erwachsen werden, ehe du dich umbringen
lässt?»
«Nein, ich nicht», sagte Argalia, «ich ziehe ins Heidenland, um
gegen seltsame Götzen zu kämpfen. Wer weiß schon, was die da
anbeten, Skorpione, Ungeheuer oder Würmer. Aber sterben tun sie
genau wie wir, darauf könnt ich wetten.»
«Zieh nicht in deinen Tod mit unheiligen Flüchen auf den Lippen»,
sagte Niccolo. «Bleib bei uns. Mein Vater liebt dich gewiss ebenso
wie mich. Oder denk nur an die vielen Vespuccis, die bereits in
Ognissanti leben. Einer mehr fällt da gar nicht auf, falls du
lieber bei Ago wohnen möchtest.»
«Ich gehe», sagte Argalia. «Andrea Doria hat die Franzosen fast aus
der Stadt getrieben, und ich will dort sein, wenn der Tag der
Freiheit anbricht.»
«Und Ihr, Ihr mit Euren drei Göttern, einem Zimmermann, einem
Vater, einem Geist und der Mutter des Zimmermanns als Göttin
obendrein», fragte der Herrscher Mogor verärgert, «Ihr aus dem
Heiligen Land, das seine Bischöfe hängt und Priester auf
Scheiterhaufen verbrennt, während sein größter Gottesmann Armeen
befiehlt und sich so brutal wie ein gewöhnlicher General oder Fürst
aufführt - welche der wilden Gegenden dieses Heidenlandes findet
Ihr besonders attraktiv? Oder sind sie Euch in ihrer Schändlichkeit
alle gleich? Wir sind uns nämlich sicher, dass wir in den Augen von
Pater Acquaviva und Pater Monserrate genau das sind, für das uns
schon Argalia hielt, also ein gottloses Schwein.» «Mein Herr»,
antwortete Mogor dell’Amore gelassen, «ich finde die Vielgötterei
ungleich faszinierender, denn ihre Geschichten sind besser,
zahlreicher, dramatischer, humorvoller und schlichtweg wunderbarer.
Außerdem geben uns ihre Götter kein gutes Beispiel; sie mischen
sich ein, sind eitel, bockig und gemein; und sie benehmen sich
ziemlich ungehobelt, was mir, wie ich bekennen muss, weit besser
gefällt.»
«Uns geht es ebenso», sagte der Herrscher und
beruhigte sich wieder. «Wir hegen eine große Zuneigung zu diesen
wollüstigen, wütenden, verspielten, liebenden Göttern, weshalb wir
hundertundeinen Mann ernannt haben, sie alle zu zählen, jede
angebetete Heiligkeit in Hindustan, nicht nur die gefeierten,
hohen, sondern auch alle niederen Götter, die kleinen Ortsgeister
seufzender Haine und glucksender Bergbäche. Wir haben die Männer
beauftragt, Heim und Familie zu verlassen und sich auf eine Reise
ohne Ende zu begeben, eine Reise, die erst mit ihrem Tod einen
Abschluss findet, denn die ihnen aufgetragene Aufgabe ist unmöglich
zu bewältigen. Wenn aber ein Mensch das Unmögliche auf sich nimmt,
reist er jeden Tag mit dem Tod und akzeptiert die Reise als
Reinigung, als Erweiterung der Seele, sodass sie keine Reise zum
Benennen der Götter, sondern eine Reise zu Gott selbst wird. Sie
haben mit ihren Anstrengungen kaum erst begonnen, doch konnten sie
bereits eine Million Namen sammeln. Welch eine Vielzahl an
Göttlichkeit! Wir glauben, es gibt in diesem Land mehr
übernatürliche Wesen als Menschen aus Fleisch und Blut, und wir
sind glücklich, in einer solch magischen Welt leben zu dürfen.
Dennoch müssen wir sein, was wir nun einmal sind. Die Million
Götter sind nicht unsere Götter Vaters gestrenge Religion wird auf
immer die unsere sein, so wie die Eure die des Zimmermanns
ist.»
Er schaute Mogor nicht länger an, sondern gab sich einem Traum hin.
Pfaue tanzten über die morgenhellen Pflastersteine Sikris, und in
der Ferne schimmerte der große See wie ein Gespenst. Der Blick des
Herrschers wanderte vorbei an Pfauen und See, vorbei am Hof von
Herat und dem Land der grimmigen Türken und blieb auf den Kuppeln
und Türmen einer weit entfernten italienischen Stadt ruhen. «Stellt
Euch die Lippen einer Frau vor», flüsterte Mogor, «zum Kuss
gespitzt. So ist die Stadt Florenz, schmal an den Rändern
(geschwollen in der Mitte, und der Arno fließt hindurch und teilt
die Lippen, die untere von der oberen. Diese Stadt ist eine
Zauberin. Wen sie küsst, der ist verloren, ob nun König oder
gemeiner Mensch.»
Akbar wanderte durch die Straßen jener anderen steinernen Stadt, in
der offenbar niemand unter ihren Dächern bleiben wollte. In Sikri
fand das Leben hinter zugezogenen Vorhängen und verrammelten Toren
statt in jener fremden Stadt aber wurde das Leben unter der
Kathedralenkuppel des Himmels gelebt. Man aß, wo man sein Essen mit
den Vögeln teilen konnte, und spielte, wo Taschendiebe die Gewinne
stahlen, küsste sich vor den Augen von Fremden, und manchmal, wenn
einem der Sinn danach stand, vögelte man gar im Schatten. Was
bedeutete es, wenn man als Mensch so völlig unter Menschen war? War
man eher mehr oder weniger man selbst, wenn die Einsamkeit
solcherart verbannt wurde? Stärkte die Menge die Individualität?
Oder wurde sie dadurch ausgelöscht? Der Herrscher kam sich vor wie
Harun al-Rashid, der Kalif von Bagdad, der nächtens durch seine
Stadt spazierte, um zu erfahren, wie seine Untertanen lebten.
Akbars Mantel aber war aus dem Tuch der Zeit und des Raumes
geschnitten, und diese Menschen waren nicht die seinen. Warum
jedoch empfand er dann ein solch starkes Gefühl der Verwandtschaft
mit den Bürgern dieser lärmenden Gassen? Warum verstand er ihre
unaussprechliche europäische Sprache, als wäre es seine eigene?
«Die Frage nach dem Königtum», sagte der Herrscher nach einer
Weile, «beschäftigt uns immer seltener. Unser Königreich hat
Gesetze, nach denen es geführt wird, vertrauenswürdige Beamte und
ein Steuersystem, das ausreichend Geld einbringt ohne die Menschen
in größeres Unglück zu stürzen, als ratsam wäre. Wenn es Feinde zu
besiegen gibt, besiegen wir sie. Kurz und gut auf diesem Gebiet
haben wir die Antworten, nach denen uns verlangt. Die Frage jedoch,
was den Mann ausmacht plagt uns weiterhin, beinahe ebenso sehr wie
die damit verwandte Frage, was denn die Frau ist.»
«In meiner Stadt mein Herr; wurde die Frage, was der Mann ist auf
alle Zeit beantwortet», sagte Mogor, «was aber die Frage nach der
Frau angeht nun, genau darum dreht sich meine Geschichte.»
Alles, was er liebte, fand sich laut Ago
Vespucci direkt vor seiner Haustür; es war unnötig, in der weiten
Welt sein Glück
zu suchen und unter Fremden mit gutturaler Sprache aus
dem
Leben zu scheiden. Vor langer Zeit war er im oktogonalen
Dämmerlicht des Battistero di San Giovanni zweimal getauft worden,
ganz wie es der Sitte entsprach, einmal als Christ und dann noch
einmal als Florentiner, und für einen ungläubigen Bastard wie Ago
zählte nur die zweite Taufe. Die Stadt war seine Religion, eine
Welt so vollkommen wie der Himmel. Der große Buonarroti hatte die
Türen des Baptisteriums Pforten zum Paradies genannt, und als der
Säugling Ago mit noch feuchtem Kopf aus jenem Gebäude auftauchte,
begriff er sogleich, dass er in ein von Mauern und Toren
geschütztes Eden kam. Insgesamt gab es fünfzehn Tore, und auf ihren
Innenseiten waren Bilder von der Jungfrau Maria und diversen
Heiligen zu sehen. Reisende berührten die Tore, weil es Glück
bringen sollte, und niemand begab sich durch diese Tore auf große
Fahrt, ohne zuvor die Astrologen zu befragen. In Ago Vespuccis
Augen bewies die Absurdität eines solchen Aberglaubens nur, wie
verrückt weite Reisen waren. Der Hof der Machiavellis in Percussina
lag am äußersten Rand seines Universums. Dahinter begann die Wolke
der Unwissenheit. Genua und Venedig waren ihm so fern und erdacht
wie am Himmel Sirius oder Aldebaran. Planet aber hieß «Wanderer».
Ago missbilligte Planeten und zog Fixsterne vor. Aldebaran und
Venedig, Genua und der Hundsstern waren vielleicht zu weit fort, um
gänzlich real zu sein, doch besaßen sie Anstand genug, am selben
Fleck zu verweilen.
Wie das Schicksal es wollte, wurde Florenz nach
der Niederschlagung des Pazzi-Aufstandes weder vom Papst noch vom
König von Neapel angegriffen, doch als Ago Anfang zwanzig war, ließ
sich der König von Frankreich blicken und hielt triumphalen Einzug
in der Stadt - ein kleiner, rothaariger Homunkulus, angesichts
dessen unerträglichem Franzosenturn Ago der Brechreiz packte. Also
ging er ins Bordell und gab sich größte Mühe, seine Laune zu
verbessern, denn schon auf der Schwelle zur Mannbarkeit war sich
Ago in einer Sache mit seinem Freund Niccolo «Il Machia» völlig
einig gewesen: Wie schwer das Leben auch sein mochte, eine gute,
tatkräftig mit einer Frau verbrachte Nacht konnte alles wieder
richten. «Es gibt kaum ein Leid auf der Welt, mein Lieber»,
belehrte ihn Il Machia, als Ago erst dreizehn war, «das eine Möse
nicht heilen könnte.» Trotz seines oft ruppigen Tons war Ago ein
ernster, gutherziger Junge. «Und die Frauen», fragte er, «wo gehen
die hin, wenn sie ein Leid plagt?» Il Machia sah ihn verblüfft an,
als hätte er darüber noch nie nachgedacht; vielleicht aber wollte
er ihm auch nur zu verstehen geben, dass ein Mann seine Zeit nicht
mit solchen Überlegungen verplemperte. «Zu einer anderen Frau, ganz
klar», sagte er mit einer jugendlichen Bestimmtheit, die für Ago
wie das letzte Wort in dieser Angelegenheit klang. Warum sollten
Frauen auch keinen Trost in den Armen anderer Frauen suchen, wenn
ihn doch die Hälfte der jungen Männer bei ihren Geschlechtsgenossen
fand?
Dass sich die Sodomie unter der Blüte Florentiner Mannestums einer
derartigen Beliebtheit erfreute, brachte der Stadt den Ruf ein, in
Sachen Homophilie die Hauptstadt der Welt zu sein.
«Wiederauferstandenes Sodom», taufte Niccolo bereits mit dreizehn
Jahren seine Heimatstadt. Und obwohl er selbst noch so jung war,
konnte er Ago bereits versichern, Mädchen interessanter zu finden,
«damit du keine Angst hast, ich könnte dich im Wald von hinten
anfallen.» Viele Zeitgenossen waren jedoch anders gesinnt - zum
Beispiel ihre Klassenkameraden Biagio Buonaccorsi und Andrea di
Romolo -, weshalb die Stadt mit voller Unterstützung der Kirche
beschloss, angesichts der zunehmenden Verbreitung homosexueller
Praktiken ein Anstandsamt einzurichten, dessen Aufgabe allein darin
bestand, Bordelle zu öffnen und zu führen und zur Unterstützung der
hiesigen Freudenmädchen Prostituierte und Zuhälter aus allen Teilen
Italiens und Europas herbeizuholen. Die Vespuccis aus Ognissanti
nutzten die Gelegenheit, erweiterten ihr Angebot und boten nun
neben Olivenöl und Wolle auch Frauen feil. «Vielleicht werde ich
doch kein Schreiberling», erzählte Ago seinem Freund Niccolo
bekümmert, als sie sechzehn waren, «sondern muss ein Huren-haus
leiten.» Il Machia riet ihm, es von der guten Seite zu sehen. «Wer
will schon einen Schreiberling vögeln?», sagte er. «Aber dich
werden wir alle beneiden.»
Der Pfad Sodoms bot auch für Ago Vespucci
keinen Reiz, war er in Wahrheit doch trotz allen obszönen Geredes
ein Jüngling von beinahe übertriebener Sittsamkeit. Il Machia
dagegen schien die Wiedergeburt des Gottes Priapus zu sein, allzeit
bereit, allzeit auf Weiberjagd, nach Professionellen wie Amateuren,
und mehrere Male die Woche schleppte er Ago zu seiner Verdammnis in
ein lärmendes Bordell. Anfangs, zu Beginn ihrer adoleszenten
Potenz, wählte Ago stets die jüngste Hure in Il Machias bevorzugtem
Etablissement, ein Mädchen, das sich «Skandal» nannte, aber einen
beinahe prüden Eindruck machte, ein knochendürres Geschöpf aus dem
Dorf Bibione, das nie den Mund auftat und ebenso verängstigt aussah
wie er selbst. Lange Zeit bezahlte er sie sogar dafür, still auf
der Bettkante zu sitzen, während er sich lang ausstreckte und tat,
als schliefe er, bis Il Machia im Zimmer nebenan zu grunzen und zu
stöhnen aufhörte. Dann beschloss er, sie zu bilden, indem er ihr
Gedichte vorlas, die sie zu erfreuen schienen, obwohl sie dermaßen
davon gelangweilt war, dass sie schier zu sterben meinte und die
Reime sogar ein wenig widerlich fand, klangen sie in ihren Ohren
doch wie jene Laute, die Männer von sich gaben, wenn sie
gedrechselte Lügen erzählten. Eines Tages beschloss sie, in den
Lauf der Dinge einzugreifen.
Ein schüchternes Lächeln stahl sich auf ihr ernstes Gesicht, als
sie zu Ago ging und eine Hand auf den Petrarca sprudelnden Mund,
die andere Hand aber an eine andere Stelle legte. Kaum hatte sie
seine Männlichkeit entblößt, lief Ago dunkelrot an und begann zu
niesen. Er nieste eine Stunde ohne Unterlass, und am Ende der
Stunde schoss ihm Blut aus der Nase. Die knochendürre Hure
fürchtete, er könnte sterben, und rannte Hilfe rufend aus dem
Zimmer, um mit der größten Nackten zurückzukehren, die Ago je
gesehen hatte. Kaum drang ihr Geruch in seine Nase, hörte sein
Riechorgan auf, verrückt zu spielen. «Ich verstehe», sagte die
Riesin, die man unter dem Namen «La Materassina» kannte, «du
glaubst, du magst die mageren Mädchen, aber eigentlich stehst du
mehr auf eine ordentliche Portion.» Sie wandte sich an ihre
knochige Kollegin und forderte sie rundheraus auf, sich zu
verkrümeln, woraufhin Agos Nase jedoch ohne weitere Vorwarnung aufs
Neue explodierte. «Heilige Mutter Gottes», rief die Riesin, «was
verbirgt sich unter all der Angst doch für ein gieriger Lüstling!
Offenbar bist du nur zufrieden, wenn du uns beide haben
kannst.»
Danach gab es für Ago kein Halten mehr, sodass ihn selbst Il Machia
lobte. «Langsamer Start, tolles Finish», sagte er anerkennend.
«Obwohl du ein Kerl bist, der auf den ersten Blick nichts hergibt,
hast du den Instinkt eines Champions.»
Ago war vierundzwanzig Jahre alt, als seine Liebe zur Stadt auf
eine unerhörte Probe gestellt wurde. Man vertrieb die Familie
Medici, schloss die Bordelle, und die Fäulnis religiöser
Scheinheiligkeit breitete sich aus. Es war die Zeit, in der die
Jammerer an die Macht gelangten, ein Kult engstirniger Fanatiker,
über die Ago mit unterdrückter Stimme zu Il Machia sagte, selbst
wenn sie geborene Florentiner wären, sei das Taufwasser bestimmt
schon verkocht gewesen, ehe es ihre Stirn salben konnte, da sie
eine wahre Höllenfeuerhitze verströmten. «Der Satan hat uns diese
Teufel gesandt, um uns vor aller Teufelei zu warnen», sagte er an
jenem Tag, an dem die lange Dunkelheit ein Ende nahm. «Und sie
haben uns vier verdammte Jahre verteufelt. In jedem verfluchten
Fall aber fiel die Soutane der Heiligkeit über den Hosenlatz des
Bösen.»
An diesem Tag brauchte er nicht mehr zu flüstern, denn seine
geliebte Heimatstadt war wiedergeboren, war dank der heilenden
Kraft eines Feuers wiederauferstanden wie der sagenhafte Vogel
Phönix. Der Oberjammerer, der Mönch Girolamo, der allen
Florentinern das Leben zur Hölle gemacht hatte, brutzelte mitten
auf der Piazza della Signoria an ebenjener Stelle, an der seine
jammervolle Truppe Jahre zuvor Schönes in Asche verwandeln wollte
und zu diesem Zweck Gemälde, weiblichen Zierrat und sogar Spiegel
herbeigeschleppt und in der irrigen Annahme verbrannt hatte, die
Liebe der Menschen zum Wohlgeformten und die Eitelkeit selbst
könnten durch heuchlerische Flammen vernichtet werden. «Versenge,
du blutiger Scheißschwanz», schrie Ago, während er den brennenden
Mönch umtanzte, was so gar nicht zu seiner überaus nüchternen
Beschäftigung als Stadtschreiber passen wollte. «Dein Feuer damals
hat uns die Idee für dieses Freudenfeuer gegeben!» Selbst der
moschusartige Gestank von Savonarolas brennendem Fleisch konnte ihm
nicht die gute Laune verderben. Er war achtundzwanzig Jahre alt,
und die Bordelle hatten wieder geöffnet.
Mercatrice, meretrice. Altem Brauch zufolge war
eine Stadt wohlhabender Kaufleute immer auch eine Stadt
wohlgestalter Huren. Da die Tage der Jammerer nun endgültig vorüber
schienen, behauptete sich aufs Neue die wahre Natur dieser Stadt
und ihrer lüsternen Anhänger aller Sinnesfreuden. Die Welt der
Bordelle kehrte zurück. Vom großen Freudenhaus Macciana inmitten
der Stadt nahe dem Mercato Vecchio und dem Battistero wurden die
Fensterläden entfernt, man bot Rabatt für Kurzentschlossene an, um
wieder das erste Haus am Platz zu werden; auf der Piazza del
Frascato ließen sich im Herzen des Bordells erneut die Tanzbären
und Zwergjongleure blicken, die Affen in Uniformen, denen man
beigebracht hatte, «für ihr Land zu sterben», aber auch die
Papageien, die sich an die Namen aller Bordellkunden erinnerten und
sie laut krächzten, sobald die Männer sich zeigten. Natürlich
kehrten die Frauen zurück, die wilden slawischen Metzen, die
melancholischen Dirnen Polens, die lauten Buhlinnen Roms, die
dicken deutschen Mätressen, die Schweizer Söldnerinnen, die im Bett
so unbändig waren wie ihre männlichen Widerparte auf dem
Schlachtfeld, und die Mädchen von Florenz, die Besten von allen.
Ago hielt nichts von Reisen, auch nicht, wenn es ums Bett ging. Er
traf seine Lieblingsmädchen wieder, beste toskanische Ware, alle
beide. Außer für die Hure Skandal und ihre Kollegin La Materassina
entwickelte Ago eine Vorliebe für eine gewisse Beatrice Pisana, die
nach der Königin der Amazonen den Namen Penthesilea annahm, da sie
nur mit einer Brust geboren worden war, der - wie zum Ausgleich -
schönsten Brust der Stadt, was zumindest für Ago gleichbedeutend
mit der schönsten Brust der ganzen bekannten Welt war.
Als das Tageslicht schwand, das Feuer auf der Piazza sein Werk
verrichtet hatte und erlosch, scholl Musik aus dem Macciana
herüber, und auch vom rivalisierenden Vergnügungsviertel, dem
Chiasso de’ Buoi, um die Stadt mit ihren Klängen zu segnen wie ein
Engel, der die Wiedergeburt der Freude verkündet. Ago und Il Machia
beschlossen, die Nacht durchzufeiern, eine herrliche Nacht, die
zugleich die letzte Nacht ihrer sorgenfreien Jugend sein sollte,
denn noch während Savonarola brannte, hatte der neue Stadtrat der
Achtzig Niccolo in den Palazzo berufen und zum Sekretär der Zweiten
Kanzlei ernannt, die sich um die Auslandsbeziehungen der Republik
Florenz kümmerte.
Niccolo sagte Ago gleich, dass er auch eine Stelle für ihn habe. «Warum ich?», hatte Ago gefragt. «Ich hasse diese verfickten Ausländer.»
«Erstens, furbo», erwiderte Il Machia, «überlässt du mir das Ficken mit den Fremden, dafür überlass ich dir den langweiligen Papierkram. Und zweitens hast du es selbst vorhergesagt, also meckere nicht rum, wenn sich dein Traum erfüllt.»
«Scheiße, bugiarone, du bist wirklich ein Arschloch», sagte Ago bekümmert und machte seinem Freund mit der Linken ein rüdes Zeichen, indem er den Daumen zwischen Zeigefinger und Mittelfinger schob. «Trinken wir einen auf meine prophetischen Gaben.»
Ein furbo war mit allen Wassern gewaschen; ein
bugiarone genannt zu werden, war dagegen weniger nett und in
Niccolos Fall sogar unzutreffend, denn Ago wie Il Machia waren auch
weiterhin keine Sodomiten, jedenfalls nicht oft, doch in dieser
Nacht, in der die Jammerer um ihr Leben rannten oder, falls sie
nicht schnell genug waren, in Gassen und Pferdeställen aufgeknüpft
wurden, tauchte der wahre Florentiner wieder aus der Versenkung
auf, und das hieß, dass Männer wieder Händchen hielten und, wo man
auch hinsah, einander küssten. «Buonaccorsi und di Romolo müssen
ihre Liebe endlich nicht mehr verstecken», sagte Il Machia. «Ich
denke übrigens daran, die beiden einzustellen, dann kannst du ihnen
zusehen, wenn sie im Kontor übereinander herfallen, während ich in
Amtsgeschäften unterwegs bin.»
«Es gibt nichts, was diese beiden Verrückten mir zeigen könnten»,
erwiderte Ago, «das ich nicht bereits gesehen hätte, und damit
meine ich auch die erbärmlichen Pfläumchen in ihren
Hosen.»
Erneuerung, Regeneration, Wiedergeburt. In Agos Kirche in
Ognissanti, ein Gebäude, das er freiwillig nur betrat, wenn sich
herumsprach, dass eine große Kurtisane dort ihren Liebreiz zur
Schau stellte, schworen die Gläubigen, Giottos strenge Madonna habe
über das ganze Gesicht gegrinst. An diesem Abend aber vor der
Kirche von Orsanmichele, in der sich die vornehmsten Kurtisanen
wiedertrafen, gekleidet nach neuester Mailänder Mode und mit dem
Schmuck ihrer Gönner behängt - wurden Niccolo und Ago von einer
ruffiana angesprochen, von Giulietta Veronese, der zwergenhaften
Kupplerin und, wie manche behaupteten, sapphischen Geliebten
Alessandra Fiorentinas, der gefeiertsten Nachtdame von ganz
Florenz. Die Veroneserin lud sie zur Gala der Wiedereröffnung des
Hauses Mars ein, dem ersten Salon der Stadt, benannt nach jener
Statue des Kriegsgottes, die lange am Flussufer des Arno gestanden
hatte, ehe sie schließlich von einer Flut fortgespült worden war.
Das Haus befand sich an der Nordseite des Flusses nahe des Ponte
alle Grazie. Die Einladung war äußerst ungewöhnlich. La Fiorentinas
Netz an Informanten funktionierte gewiss außerordentlich schnell
und gut, doch selbst wenn sie bereits von Il Machias neuem Amt als
Sekretär der Zweiten Kanzlei gehört haben sollte, rechtfertigte
dies keineswegs seine Aufnahme in die erlesenste und exklusivste
Gesellschaft von Florenz; und dass er den noch weit unbedeutenderen
Ago Vespucci mitbringen durfte, glich einem schlichtweg
beispiellosen Privileg. Sie kannten natürlich Bilder von
Alessandra, hatten sie in einem Band mit Miniaturen angehimmelt,
ihr langes blondes Haar, das Erinnerungen an die verstorbene
Simonetta weckte, deren verstörter Gatte Marco, der Gehörnte, nach
ihrem Tod vergeblich um Einlass in La Fiorentinas Salon gebettelt
hatte. Er heuerte gar einen der führenden mevani, also Kuppler, der
Stadt an, um mit Alessandras ruffiana zu verhandeln, und der Lude
hatte im Namen des Gehörnten Marco Liebesbriefe geschrieben,
Serenaden unter Alessandras Abendfenster singen und für den
Dreikönigsabend als besonderes Geschenk sogar ein Sonett von
Petrarca in goldenen kalligraphischen Lettern abschreiben lassen,
doch blieb Marco die Tür zum Salon verschlossen. «Meine Herrin»,
sagte Giulietta Veronese dem mevano, «ist nicht daran interessiert,
die nekrophilen Phantasien eines verrückten Hahnreis zu
befriedigen. Sagt Eurem Herrn, er möge sich ein Loch in ein Bild
seiner verstorbenen Gattin bohren und lieber die Leinwand
rammeln.»
Eine Woche nach dieser Absage erhängte sich Marco
Vespucci.
Seine Leiche baumelte vom Ponte alle Grazie herab, aber Alessandra
Fiorentina hatte sie nie gesehen. Sie stand am Fenster und
striegelte ihre langen goldenen Strähnen, doch es war, als sei
Marco, der Liebesnarr, ein unsichtbarer Mann, denn Alessandra hatte
schon vor langem die Kunst perfektioniert, nur zu sehen, was sie
sehen wollte; da dies zu den elementarsten Fähigkeiten zählte,
wollte man zu den Gebietern der Welt und nicht zu ihren Opfern
zählen. Ihre Sicht schuf die Stadt. Wen sie nicht sah, den gab es
nicht. Der ungesehen vor ihrem Fenster verendende Marco Vespucci
starb ein zweites Mal durch ihren auslöschenden Blick.
Einmal, vor einem Jahrzehnt, als sie noch in der Blüte ihrer Jugend
standen, hatten Niccolo und Ago, die beiden Jungen, Alessandra
angehimmelt, als sie sich auf offenem Balkon rekelte, über den Arno
schaute und sich auf rotem Samtkissen vorbeugte, sodass alle Welt
ihr edles Dekollete bewundern konnte, während sie vorgab, ein Buch
zu lesen, vermutlich Boccaccios Decamerone. Die puritanischen Jahre
schienen weder ihrer Schönheit noch ihrer gesellschaftlichen
Stellung Abbruch getan zu haben. Sie besaß jetzt ihren eigenen
Palast, war die Königin des Hauses Mars und empfing am heutigen
Abend im piano nobile. «Das einfache Volk», sagte Giulietta
Veronese, «kann sich im Kasino im Erdgeschoss vergnügen.» In den
vier Jahren der Jammererherrschaft war die Zwergin Giulietta
gezwungen gewesen, sich ein Auskommen als Barbierin zu suchen, als
Wahrsagerin und Panseherin von Liebestränken. Gerüchte behaupteten,
sie hätte Gräber ausgeraubt und die Nabelschnur toter Säuglinge
gestohlen, hätte die Jungfernhäute von verstorbenen Jungfern
abgetrennt und für ihre ruchlosen Zauberflüche die Augen der Toten
ausgestochen, weshalb Ago ihr gerade sagen wollte, dass es ihr
verdammt noch mal ja wohl kaum anstünde, vom gemeinen Volk zu
reden, als Il Machia ihn gerade noch rechtzeitig so hart zwickte,
dass er vergaß, was er sagen wollte, und sich lieber ausmalte, wie
es wäre, Niccolo Machiavelli umzubringen. Das vergaß er allerdings
auch bald wieder, denn die Veroneser Vettel erteilte weitere
Anweisungen. «Bringt ihr Gedichte», sagte sie. «Sie mag Gedichte,
keine Blumen. Blumen hat sie genug. Bringt ihr das Neueste von
Sannazaro, von Cecco d’ Ascoli oder lernt ein Madrigal von
Parabosco und bietet ihr an, es für sie zu singen. Sie kann
ziemlich schwierig sein. Singt Ihr schlecht, schlägt sie Euch ins
Gesicht. Langweilt sie nicht, sonst wirft Euch einer ihrer Galane
wie ein langweiliges Spielzeug einfach aus dem Fenster. Werdet ihr
nicht lästig, anderenfalls wird ihr Beschützer Euch, noch ehe Ihr
morgen nach Hause gelangt, in einer Seitengasse mitten ins Herz
stechen. Ihr werdet nur aus einem einzigen Grund eingeladen, also
wagt Euch nicht auf Terrain vor, auf dem Ihr nichts verloren
habt.»
«Dann sind wir also eingeladen?», fragte Il Machia. «Das wird sie Euch selbst sagen», erklärte die Veroneser Vettel gehässig, «falls ihr danach ist.»
Akbar der Große wusste über den rasanten Aufstieg der Skelett und Matratze genannten Prostituierten Bescheid, die sich von einfachen Huren am Hatyapul-Tor zu ausgewachsenen Kurtisanen mit eigener Villa am Seeufer gemausert hatten. «Ihr Erfolg wird allgemein als ein Zeichen für den Aufstieg des Fremden gewertet, dieses Vespucci, des Lieblings dieser Damen, der es vorzieht, sich Mogor de l’Amore zu nennen», sagte ihm Abul FazJ. «Was die Herkunft des für derlei Unterfangen nötigen Kapitals angeht, so kann man nur spekulieren.» Umar der Ay’yar bestätigte seinerseits die Beliebtheit des sogenannten Hauses Skandal dessen Namen sich vom Hindugott des Krieges ableitet, «denn», so erzählte man sich in den Herrenhäusern im Unteren Sikri, «lässt man sich auf diese Damen ein, hat das mehr Ähnlichkeit mit dem Krieg als mit der Liebe». Umar berichtete, Tansen, das Musikgenie des Hofes, habe sich herabgelassen, einen raag zu Ehren der Kurtisanen zu komponieren, den raag deepak, so benannt, weil bei der ersten Aufführung durch den Zauber seiner Melodie plötzlich sämtliche Lampen im Haus Skanda entflammten.
In seinen Träumen suchte der Herrscher selbst dieses Bordell auj, das im Nachtland an den Ufern eines unbekannten Flusses und nicht am Gestade seines eigenen Sees stand. Dass sich Mogor deWAmore seinerseits in den Fängen eines Wachtraums befand, ließ sich kaum übersehen, war er es doch gewesen, der die Huren in seiner Geschichte rund um die Welt an den Arno versetzt hatte. Wenn es um Huren geht, lügen alle Männer, dachte Akbar und verzieh ihm. Er hatte ernstere Probleme zu bedenken.
Suchte man im Traum nach Liebe, war dies ein
sicheres Zeichen dafür; dass man die Liebe verloren hatte,
überlegte der Herrscher beim Aufwachen besorgt. Am nächsten Abend
ging er zu Jodha und nahm sie mit einer Wildheit, die ihren
Paarungen seit seiner Rückkehr von den Kriegen gefehlt hatte. Als
er ging, um weiter der Geschichte des Fremden zu lauschen, fragte
sich Jodha, ob diese ungezügelte Leidenschaft ein Zeichen seiner
Rückkehr oder eine Geste des Abschieds gewesen war. «Will eine Frau
einen Mann zufriedenstellen», sagte der Herrscher, «muss sie singen
können. Sie sollte wissen, wie man ein musikalisches Instrument
spielt, wie man tanzt und wie man, falls erwünscht, alles drei
gleichzeitig macht: singen, tanzen, auf einer Flöte spielen oder
eine Saite anschlagen. Sie sollte gut schreiben, gut zeichnen, ein
Tätowierung geschickt anbringen können und selbige umgekehrt auch
an genau der Stelle bei sich machen lassen, wo es ihrem Mann
gefallen könnte. Außerdem sollte sie die Sprache der Blumen
beherrschen, wenn sie Betten oder Sofas herrichtet oder auch ein
Gemach dekoriert: Kirschenzweige stehen für die Treue, Narzissen
für die Freude, Lotus für Reinheit und Wahrheit. Die Weide ist die
Frau, die Pfingstrose der Mann. Granatapfelknospen verheißen
Fruchtbarkeit, die Olive bringt Ehre, und Kienzapfen bedeuten
Reichtum und ein langes Leben. Die Winde aber sollte stets
vermieden werden, denn sie kündet vom Tod.»
Im Harem des Herrschers hausten die Konkubinen in roten, mit dicken
Kissen gepolsterten Steinzellen. Rund um einen zentralen Hof; über
dem eine mit Spiegeln durchsetzte Markise den Harem vor der Sonne
und unwürdigen Blicken schützte, reihten sich dicht an dicht ihre
Zellen, Ställe für eine Liebesarmee, wie für Milchvieh. Eines Tages
wurde Mogor das Privileg gewährt, Akbar in diese verborgene Welt
begleiten zu dürfen. Ihm folgte ein schlanker Eunuch, dessen Leib
kein einziges Haar verunstaltete. Das war Umar der Ay’yar; er hatte
keine Augenbrauen, sein Schädel schimmerte blank wie ein Helm, die
Haut war faltenlos und weich. Es ließ sich unmöglich schätzen, wie
alt er war, doch ahnte Mogor instinktiv, dass dieser seiden glatte
Jüngling ohne Skrupel töten konnte, dass er dem besten Freund den
Kopf abschlagen würde, falls der Herrscher dies wünschte. Die
Frauen des Harems bewegten sich um sie herum in Bahnen, die Mogor
an Sterne erinnerten, an die Kreise und Spiralen der Himmelskörper;
die sich - jawohl! - um die Sonne bewegten. Er berichtete dem
Herrscher von dem neuen, heliozentrischen Modell des Universums,
redete aber mit leiser Stimme, denn diese Gedanken konnten einen
Mann daheim wegen Ketzerei auf den Scheiterhaufen bringen. Also
sollte man derlei wohl besser nicht laut hinaus posaunen, auch wenn
es höchst unwahrscheinlich war; dass der Papst ihn hören konnte,
hier; mitten im Harem des Großmoguls.
Akbar lachte. «Das wissen wir doch schon seit aberhundert Jahren»,
sagte er. «Was kommt Ihr wiedergeborenen Europäer mir doch
zurückgeblieben vor! Wie ein Säugling, der die Rassel aus der Wiege
wirft damit sie kein Geräusch mehr macht.» Mogor nahm diese
Zurechtweisung hin und wechselte das Thema. «Ich wollte damit nur
sagen, dass Euer Majestät die Sonne ist und dies sind Eure
Satelliten», fuhr er fort. Der Herrscher klopfte ihm auf den
Rücken. «Allerdings könnt Ihr uns auf dem Gebiet des
Süßholzraspelns offenbar noch das ein oder andere beibringen. Wir
werden unserem Oberschmeichler Bhakti Ram Jain sagen, er möge sich
einige Anregungen bei Euch holen.»
Still und leise wie Geisterwesen aus einem Traum umkreisten
Konkubinen die beiden Männer. Sie rührten die Luft um den Herrscher
zu einer magischen Suppe an, abgeschmeckt mit den Gewürzen der
Erregung. Und sie kannten keine Eile. Dem Herrscher war alles
untertan, sogar die Zeit ließ sich in die Länge ziehen oder
anhalten. Sie hatten alle Zeit der Welt.
«In der Kunst ihre Zähne und Kleider; ihre Fingernägel und ihren
Leib zu tönen, zu färben, zu bemalen und zu schmücken, sollte eine
Frau unvergleichlich sein», sagte der Herrscher; dem die Worte vor
lauter Lust nur noch träge über die Lippen kamen. Wein wurde in
goldenen Glaskelchen gereich~ und er trank mit großen, unklugen
Schlucken. Man brachte eine Pfeife, und bald umwölkte Opiumrauch
seine Pupillen. Die Konkubinen waren näher gerückt kreisten enger
um sie herum, begannen mit ihren Leibern, den Herrscher und seinen
Gast zu streifen. In der Gesellschaft des Herrschers war man für
einen Tag selber Herrscher. Seine Privilegien wurden zu den eigenen
Vorrechten. «Eine Frau sollte wissen, wie man Musik auf Gläsern
spielt, die unterschiedlich mit diversen Flüssigkeiten gefüllt
wurden», lallte der Herrscher. «Sie sollte Buntglas in den Boden
einsetzen können, sollte wissen, wie man ein Bild rahmt und
aufhängt, wie man eine Halskette macht, einen Rosenkranz, eine
Blütengirlande und wie man Wasser aus einem Aquädukt oder einer
Zisterne holt. Sie sollte sich mit Düften auskennen. Und mit
Zierrat für die Ohren. Sie sollte schauspielern, sollte
Theaterstücke aufführen können, sollte ihre Hände flink und präzise
zu gebrauchen wissen, sollte kochen, Limonade oder Sorget machen,
Schmuck tragen und einem Mann den Turban binden. Und sie sollte
natürlich Zauberei beherrschen. Eine Frau, die sich in diesen
wenigen Dingen auskennt, kann es fast mit jedem ignoranten,
ungeschlachten Mann aufnehmen.»
Die Konkubinen waren zu einer einzigen, übernatürlichen Frau
verschmolzen, einer vielfachen Konkubine, und SIE hüllte die beiden
Männer ein, umlagerte sie mit Liebe. Der Eunuch war aus den
Umlaufbahnen der Planeten des Verlangens geschlüpft. Die eine Frau
der vielen Arme und unendlichen Möglichkeiten, die Konkubine
schlechthin, ließ ihre Münder verstummen, IHR sanfter Leib berührte
ihre Härte. Mogor überließ sich IHR Er dachte an Begegnungen mit
anderen Frauen, weit fort und lange vorbei, an Simonetta Vespucci
und Alessandra Fiorentina, und an die Frau, deren Geschichte ihn
nach Sikri gebracht hatte. Auch sie waren Teil dieser
Konkubine.
«In meiner Stadt», sagte er viel später und lehnte sich inmitten
der Melancholie von Frauen nach dem Liebesspiel in die Kissen
zurück, «sollte eine Frau von edler Abkunft besonnen und keusch
sein und für keinen Klatsch sorgen. Solch eine Frau muss bescheiden
sein, still, freimütig und gütig. Wenn sie tanzt, sollte sie keine
allzu abrupten Bewegungen machen, und wenn sie Musik spielt, sollte
sie das Laute der Laute und das Trommelige der Trommeln meiden. Sie
sollte sich nur dezent schminken und nicht allzu auffällig
frisieren.» Obwohl der Herrscher schon fast eingeschlafen war, gab
er ein abschätziges Geräusch von sich. «Dann müssen Eure Edlen an
Langeweile sterben», behauptete er. «Ach, aber die Kurtisanen»,
sagte Magot; «die erfüllen all Eure Ideale, vielleicht bis auf die
Sache mit dem Buntglas.» - «Liebe niemals eine Frau, die nicht mit
Buntglas umgehen kann», verkündete der Herrscher feierlich und
schien dies nicht im Geringsten komisch zu finden. «Eine solche
Frau ist eine ignorante Vettel.»
In jener Nacht verliebte sich Agostino Vespucci zum ersten Mal, und
er begriff, dass die Verehrung einer Frau auch einer Reise
gleichkam. So fest er sich auch vornahm, seine Heimatstadt nicht
verlassen zu wollen, war er doch vom Schicksal auserkoren, wie
seine rastlosen Freunde unbekannte Wege einzuschlagen, Bahnen des
Herzens, die ihn verleiteten, an gefährliche Orte vorzudringen,
sich Dämonen und Drachen zu stellen und das Risiko einzugehen,
nicht nur sein Leben, sondern auch seine Seele zu verlieren. Durch
eine sorglos geöffnete Tür erhaschte er einen Blick auf La
Fiorentina in ihrem Privatgemach, wie sie sich inmitten einer
kleinen Gruppe der edelsten Herren der Stadt auf vergoldetem Sessel
rekelte und träge ihrem Gönner Francesco deI Nero gestattete, ihr
die linke Brust zu küssen, während ein kleiner pelziger weißer
Schoßhund ihre rechte Brustwarze beschlabberte. Im selben
Augenblick war es um Ago geschehen; er wusste, für ihn kam nur
diese eine Frau in Frage. Francesco del Nero war ein Verwandter von
Il Machia, dem sie vermutlich die Einladung zu verdanken hatten,
doch das kümmerte Ago in diesem Moment nicht; er hätte diesen
Bastard am liebsten auf der Stelle erdrosselt und, ja, den
verdammten Schoßhund gleich mit. Wollte er La Fiorentina erobern,
würde er gewiss viele Rivalen besiegen müssen, dabei aber auch sein
Glück machen, und während der Weg in die Zukunft sich wie ein roter
Teppich vor ihm ausrollte, fühlte er die Sorglosigkeit der Jugend
von sich abfallen. An ihrer Stelle machte sich eine neue
Entschlossenheit breit, scharf und so vielfach gehärtet wie eine
Klinge aus Toledo. «Sie wird mir gehören», murmelte er Il Machia
zu, und sein Freund betrachtete ihn amüsiert. «Eher werde ich zum
Papst gewählt», sagte er, «als dass Alessandra Fiorentina dich in
ihr Bett lässt. Schau dich doch an. Du bist kein Mann, in den sich
schöne Frauen verlieben. Einer wie du macht für sie den Botenjungen
und dient als Fußabtreter.»
«Scher dich zum Teufel», erwiderte Ago. «Es ist dein verdammter
Fluch, dass du die Welt zu deutlich und ohne einen Funken Güte
siehst, dass du deine Einsichten nicht für dich behalten kannst,
dass du sie ausspucken musst und die Gefühle anderer Menschen dich
einen Dreck kümmern. Warum verschwindest du nicht und befriedigst
einen kranken Ziegenbock?»
Il Machias Brauen, breit wie Fledermausflügel, zuckten in die Höhe,
als wollte er gestehen, zu weit gegangen zu sein, dann küsste er
seinen Freund auf beide Wangen. «Entschuldige», sagte er reumütig.
«Du hast recht. Ein junger Mann von achtundzwanzig Jahren und nicht
besonders großer Statur, dem bereits das Haar ausfallt und dessen
Leib einer Ansammlung von Speckrollen gleicht, die in ein allzu
enges Korsett gezwängt wurden, der keine Gedichte auswendig kennt,
nur ein paar schmutzige Reime, und einen für seine Obszönität
stadtbekannten Zungenschlag hat - das ist natürlich genau der Kerl,
für den Königin Alessandra die Beine breit machen wird.» Ago
schüttelte bekümmert den Kopf. «Ich sag dir, wie größenwahnsinnig
ich wirklich bin», bekannte er. «Ich will nicht nur ihren Körper,
ich will ihr verfluchtes Herz.»
Im Salon der Alessandra Fiorentina, unter einer hohen Kuppeldecke
mit Fresken fliegender Putten, die sich vor blauem Himmel um eine
Wolkenmatratze sammelten, auf der Ares und Aphrodite der Liebe
frönten, fühlte sich Ago Vespucci, während er der himmlischen Musik
eines cornetto curvo lauschte, als hätte ihn im Dunkel der Nacht
ein Lichtstrahl getroffen und aufs Neue in jene versteinerte
Unschuld verwandelt, die er vor vielen Jahren gewesen war, als er
auf der Bettkante der dürren Dirne gesessen und ihr Verse bekannter
Dichter vorgelesen hatte, um zu erröten und zu niesen, sobald sie
beschloss, zur Sache zu kommen. La Fiorentina war nirgendwo zu
sehen. In ihrer Abwesenheit stand er mit der Mütze in der Hand an
einem kleinen Springbrunnen, unfähig, an der allgemeinen Orgie
teilzunehmen. Il Machia ließ ihn eine Weile allein und lief mit ein
paar nackten Nymphen in einen trompe-freil-Wald, während Ago der
eigene Leib schwer zu schaffen machte. Er war auf diesem Fest ein
Phantom, der einzig lebendige Mensch in einem Haus orgiastischer
Geister. Er fand sich übergewichtig und war traurig und
einsam.
In dieser Nacht schlief niemand in der wiedergeborenen
Stadt.
Musik erfüllte die Luft, und die Straßen, die übel beleumundeten
Häuser, aber auch jene mit gutem Ruf, die Märkte, die Klöster, alle
barsten schier vor Liebe. Die Statuen der Götter wurden aus ihren
blumengeschmückten Alkoven geholt, schlossen sich dem Reigen an und
pressten ihre kalte marmorne Nacktheit an warme Haut. Selbst die
Tiere stimmten ein und fielen mit Begeisterung übereinander her.
Ratten rammelten im Schatten der Brücken, und Fledermäuse in
Kirchtürmen taten, was Fledermäuse gerne tun. Ein Mann rannte nackt
durch die Straßen und läutete ein helles Glöckchen. «Reibt euch die
Augen und knöpft die Hosen auf», rief er, «die Zeiten der Tränen
sind vorbei.» Ago Vespucci im Hause Mars hörte in der Feme dieses
Glöckchen klingen und wurde von unerklärlicher Angst gepackt. Einen
Augenblick später ging ihm auf, dass es die Furcht vor dem
verströmenden Leben war, davor, dass ihm das Leben durch die Finger
glitt, während er allein und wie gelähmt am Springbrunnen stand.
Ihm war, als verstrichen zwanzig Jahre in einem einzigen Moment,
als entführte ihn die Musik, trüge ihn hilflos in eine Zukunft der
Paralyse und des Versagens, in der die Zeit selbst erstarrte,
erdrückt unter der Last seines Kummers.
Dann, endlich, winkte ihn die Kupplerin Giulietta Veronese zu sich.
«Ihr seid ein Glückspilz», sagte sie. «Obwohl es für La Fiorentina
eine großartige Nacht war, eine phantastische Nacht, möchte sie
Euch und Euren sexbesessenen Freund jetzt sehen.» Mit lautem Schrei
platzte Vespucci in die mit Wäldern bemalte Schlafkammer, riss Il
Machia von den Nymphen fort, warf ihm seine Kleider zu und zerrte
ihn, der sich noch anzog, zu jenem verzauberten Gemach, in dem
Alessandra die Schöne auf sie wartete.
Im Allerheiligsten der großen Kurtisane lagen die Mächtigen von
Florenz halb nackt in gestillter Lust auf samtenen Sofas, die
Gliedmaßen wahllos über die erschöpften Leiber nackter Hetären
gestreckt, Alessandras Tanztruppe, die so lange nackt die Beine für
die städtischen Würdenträger geschwungen hatte, bis diese ihre
Würde vergessen und sich in heulende Wölfe verwandelt hatten. La
Fiorentinas Bett aber war leer, das Laken unberührt, und Agos Herz
machte vor dümmlicher Freude einen kleinen Satz. Sie hat keinen
Liebsten, sie wartet auf mich. Doch die göttliche Alessandra dachte
nicht an Sex. Sie lag lang ausgestreckt auf dem ungenutzten Bett,
mit nichts als ihrem goldenen Haar bekleidet, aß Trauben aus einer
Schüssel und gab nur mit winzigster Geste zu verstehen, dass sie
die Ankunft der beiden im Boudoir wahrgenommen hatte. Sie blieben
neben der ruffiana, ihrem Wachhund, stehen und warteten. Nach
einigen Augenblicken begann La Fiorentina zu reden, so leise, als
erzählte sie sich selbst eine Gutenachtgeschichte.
«Am Anfang», begann sie gedankenverloren, «waren drei Freunde:
Niccolo „Il Machia“, Agostino Vespucci und Antonio Argalia. Die
Welt ihrer Kindheit war ein Zauberwald. Dann wurden Ninos Eltern
von der Pest dahingerafft. Er ging, um sein Glück zu suchen, und
sie haben ihn nie wieder gesehen.»
Als sie diese Worte hörten, vergaßen beide Männer die Gegenwart und
versanken in Erinnerungen. Niccolos Mutter Bartolomea de’ Nelli,
die Krankheit mit Grießbrei heilen konnte, war plötzlich gestorben,
nur kurz nachdem die neunjährige Waise Argalia in Richtung Genua
aufgebrochen war, um in die Dienste der mit Arkebusen bewaffneten
Miliz des condottiere Andrea Doria einzutreten. Niccolos Vater
Bernardo hatte sich größte Mühe gegeben, eine Polentakur
anzurühren, aber Bartolomea hatte trotzdem das Zeitliche gesegnet,
fieberheiß und vor Kälte zitternd. Seither war Bernardo nicht mehr
derselbe. Er lebte jetzt meist draußen auf dem Hof in Percussina,
hielt sich irgendwie über Wasser und gab sich die Schuld daran,
dass es ihm an jenen Kochkünsten fehlte, die seiner Frau geholfen
hätten, am Leben zu bleiben. «Hätte ich bloß aufgepasst», sagte er
wohl hundertmal am Tag, «dann hätte ich das richtige Rezept
gekannt. Stattdessen habe ich ihr nur die Arme mit nutzlosem heißem
Brei beschmiert, weshalb sie angeekelt von mir ging.» Und während
Il Machia an seine verstorbene Mutter und seinen ruinierten Vater
dachte, erinnerte sich Ago daran, wie Argalia sie verlassen hatte,
ein zerlumpter Streuner, an einem Stock über der Schulter ein
Bündel mit seiner Habe. «An dem Tag, an dem er von uns ging», sagte
er laut, «haben wir aufgehört, Kinder zu sein.» Doch das war nicht,
was er dachte, zumindest nicht alles. «Und es war der Tag, an dem
wir die Alraune fanden», fügte er stumm hinzu, und ein Gedanke
begann in seinem Kopf Gestalt anzunehmen, ein Plan, der Alessandra
Fiorentina zu seiner lebenslangen Liebessklavin machen sollte.
Es irritierte Alessandra, dass sie so abgelenkt
wirkten, doch war sie viel zu vornehm, um sich etwas anmerken zu
lassen. «Was seid ihr doch für zwei kaltherzige Nichtsnutze»,
schalt die Kurtisane, ohne ihre tiefe, rauchige, gleichgültig
klingende Stimme auch nur um einen Ton anzuheben. «Bedeutet er euch
denn gar nichts, der Name eures verlorenen besten Freundes, von dem
ihr neunzehn Jahre lang kein Wort gehört habt?»
Ago war zu sprachlos, um etwas zu erwidern, doch waren neunzehn
Jahre in Wahrheit eine lange Zeit. Sie hatten Argalia geliebt,
hatten ihn verloren und Monate, gar Jahre gehofft, von ihm zu
hören. Schließlich erwähnten sie seinen Namen nicht mehr, da sie
beide überzeugt waren, Argalias Schweigen müsse bedeuten, dass ihr
Freund tot sei, auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollten.
Also hatten sie die Erinnerung an Argalia in sich vergraben, denn
solange sein Name tabu blieb, lebte er vielleicht noch. Dann aber
wuchsen sie heran, und sie verloren ihn irgendwo tief in sich, die
Erinnerung verblasste, bis sie nur noch ein verschwiegener Name
war. Es fiel schwer, ihn sich ins Leben zurückzurufen.
Am Anfang waren drei Freunde, die jeder für sich auf Reisen gingen.
Ago hasste das Reisen, doch war es ihm vorherbestimmt, den
steinigen Weg der Liebe einzuschlagen. Il Machia sah besser aus,
interessierte sich aber mehr für das Streben nach Macht, einem weit
verlässlicheren Aphrodisiakum als jede Zauberwurzel. Und Argalia,
Argalia war am Himmel verschollen, er war ihr Zugvogel … «Sind es
schlechte Neuigkeiten?», fragte Niccolo. «Verzeiht. Wir haben uns
fast ein Leben lang vor diesem Moment gefürchtet.»
Alessandra deutete auf eine Nebentür. «Bring die beiden zu ihr»,
sagte sie zu Giulietta Veronese. «Ich bin zu müde, um jetzt Fragen
zu beantworten.» Mit diesen Worten legte sie den Kopf auf den
rechten Arm und versank in Schlaf, während ihrer vollkommenen Nase
die fast lautlose Ahnung eines leisen Schnarchens entwich. «Ihr
habt sie gehört», sagte die Zwergin Giulietta barsch, «Zeit, zu
gehen.» Doch dann bewies sie ein wenig Mitleid und fügte hinzu:
«Ihr werdet all Eure Antworten hier drinnen finden.»
Hinter der Tür befand sich ein weiteres Schlafgemach, doch die Frau da drinnen schlief nicht und war auch nicht nackt. Das Zimmer wurde nur spärlich erleuchtet - eine einzelne Kerze in ihrem Halter an der Wand war schon fast herab gebrannt -, und als sich die Augen ans Dämmerlicht gewöhnten, sahen sie vor sich eine stolze Odaliske in engem Mieder, weiten Hosen, die Taille entblößt, die Hände vor der Brust gefaltet. «Blöde Kuh», sagte Giulietta Veronese, «vielleicht glaubt sie, immer noch im Harem zu sein, und kann sich mit den Tatsachen nicht abfinden.» Sie trat dicht an die Odaliske heran, die beinahe doppelt so groß war wie sie selbst, und rief ihr von der Höhe ihres Bauchnabels zu: «Du bist von Piraten gefangen genommen worden! Von Piraten! Schon vor zwei Wochen - il Y a dija deux semaines -, und du wurdest auf einem Sklavenmarkt in Venedig verkauft! Un marche aux esclaves! Verstehst du? Begreifst du, was ich dir sage? Est-ce que tu comprends ce que je te dis?» Sie wandte sich wieder an Ago und Il Machia. «Ihr Besitzer will sie uns verkaufen, wenn sie uns gefallt, aber wir haben uns noch nicht entschieden. Sie sieht verdammt gut aus, Brüste, Hintern, alles bestens» - lüstern befummelte die Zwergin die regungslose Frau -, «aber sie ist ein verdammt komischer Vogel.»
«Wie heißt sie?», fragte Ago. «Warum redet Ihr sie auf Französisch an? Und warum sieht sie aus, als wäre sie in Stein verwandelt?»
«Wir haben eine Geschichte über eine
französische Prinzessin gehört, die von Türken gefangen genommen
wurde», erzählte Giulietta Veronese, während sie wie ein Raubtier
um die stumme Frau schlich. «Erst hielten wir sie bloß für ein
Märchen. Nun, vielleicht ist dies hier die Prinzessin, vielleicht
auch nicht. Jedenfalls spricht sie Französisch, so viel steht fest.
Allerdings verrät sie uns keinen richtigen Namen. Fragt man sie,
wie sie heißt, sagt sie: Ich bin der Gedächtnispalast. Fragt sie
selbst. Nur zu. Warum nicht? Habt Ihr etwa Angst?»
«Qui etes-vous, mademoiselle?», fragte Il Machia mit seiner
sanftesten Stimme, und die Steinfrau erwiderte: «Je suis le palais
des souvenirs. »
«Seht Ihr?», krähte Giulietta triumphierend. «Als wäre sie kein
Mensch, sondern eine Art Ort.»
«Was hat sie mit Argalia zu tun?», wollte Ago wissen. Die Odaliske
regte sich, als ob sie zu sprechen ansetzen wollte, verfiel dann
aber wieder in Reglosigkeit. «Damit verhält es sich
folgendermaßen», sagte Giulietta Veronese. «Als sie gebracht wurde,
gab sie keinen Ton von sich. Ein Palast mit verschlossenen Türen
und Fenstern, das war sie. Dann fragte meine Herrin: <Wisst Ihr,
wo Ihr seid?> Ich habe es natürlich auf Französisch wiederholt:
<Est-ce que tu sais OU tu es?>, und als meine Herrin
ergänzte: <Ihr seid in der Stadt Florenz>, war es, als hätte
sie einen Schlüssel umgedreht. <Es gibt einen Raum in diesem
Palast mit dem Namen Florenz>, sagte sie und machte so kleine,
unverständliche Bewegungen wie ein Mensch, der geht, ohne einen Fuß
vor den anderen zu setzen, so als liefe sie in ihrem Kopf
irgendwohin. Und dann sagte sie jene Worte, die meine Herrin
veranlassten, Euch zu ihr zu bringen.»
«Aber was hat sie denn gesagt?», wollte Ago wissen. «Hört selbst»,
erwiderte Giulietta Veronese. Daraufhin drehte sie sich zur
verschleierten Frau um und sagte: «QuJest-ce que tu connais de
Florence? Qu’est-ce que se trouve dans cette chambre du palais?»
Sogleich begann das Sklavenmädchen, sich zu bewegen, als eilte sie
über Flure, böge um Ecken und käme an Türen vorbei, ohne sich
jedoch vom Fleck zu rühren. Endlich hob sie zu reden an: «Am
Anfang», sagte sie in makellosem Italienisch, «waren drei Freunde:
Niccolo <11 Machia>, Agostino Vespucci und Antonio Argalia.
Die Welt ihrer Kindheit war ein Zauberwald.»
Ago begann zu zittern. «Woher weiß sie das? Wie
kann sie nur davon gehört haben?», fragte er verblüfft, doch Il
Machia erriet die Antwort. Teilweise hatte die Lösung des Rätsels
etwas mit den Büchern zu tun, die in der kleinen, hochgeschätzten
Bibliothek seines Vaters standen. (Bernardo war kein reicher Mann,
und Bücher waren nur schwer zu bekommen, weshalb die Entscheidung,
ein Werk zu kaufen, nie leichtfertig getroffen wurde., Neben
Niccolos Lieblingsbuch Ab Urbe Condita von Titus Livius stand
Ciceros De Oratore und daneben wiederum ein Band mit dem Titel
Rhetorica ad Herennium, ein schmales Buch von einem anonymen Autor.
«Laut Cicero», erinnerte sich Niccolo, «wurde diese Technik von
einem Griechen namens Simonides von Ceos entwickelt, der gerade ein
Abendessen mit wichtigen Leuten verlassen hatte, als hinter ihm das
Dach einstürzte und sämtliche Gäste unter sich begrub. Als er
gefragt wurde, wer außer ihm dort gewesen sei, konnte er sich an
die Namen der Toten erinnern, wenn er sich vorstellte, welchen
Platz sie am Tisch eingenommen hatten.» «Was für eine Technik?»,
fragte Aga.
«In der Rhetorica hat sie ebendiesen Namen und heißt
Gedächtnispalast», antwortete Il Machia. «Man errichtet in seinem
Kopf ein Gebäude, lernt, sich darin zu bewegen, und beginnt dann,
Erinnerungen an die Einrichtung zu heften, an die Möbel, die
Dekoration, was auch immer. Verbindet man so eine Information mit
einem bestimmten Ort, kann man ungeheure Mengen davon speichern,
indem man sich einfach nur durch dieses Haus im eigenen Kopf
bewegt.»
«Aber diese Frau nennt sich selbst einen Palast», warf Ago ein.
«Als wäre ihr Körper das Bauwerk, dem Erinnerungen anvertraut
wurden.»
«Dann hat sich jemand ziemlich viel Mühe gemacht», sagte Il Machia,
«einen Gedächtnispalast, groß wie ein menschliches Hirn, zu
schaffen. Die Erinnerung dieser jungen Frau wurde gelöscht oder in
eine Dachkammer in jenem Palast verbannt, den man in ihrem Geist
errichtet hat, damit er als Aufbewahrungsstätte all dessen diene,
woran sich ihr Herr erinnern wollte. Was wissen wir schon über das
Osmanische Reich? Vielleicht ist das unter Türken gang und gäbe?
Vielleicht ist sie auch nur Resultat einer Laune eines bestimmten
Potentaten? Oder eines seiner Favoriten? Einmal angenommen, Argalia
ist so ein Favorit - einmal angenommen, er selbst war der Architekt
des Palastes oder doch zumindest dieser einen Kammer -, oder der
Architekt war jemand, der ihn gut kannte. In jedem Fall müssen wir
zu dem Schluss kommen, dass unser geliebter Jugendfreund noch lebt
oder doch bis vor kurzem noch quicklebendig war.» «Schau nur»,
sagte Ago, «sie fangt wieder an zu reden.» «Es war einmal ein Fürst
namens Arcalia», verkündete der Gedächtnispalast, «ein großer
Krieger, der Zauberwaffen sein Eigen nannte und zu dessen Gefolge
vier schreckliche Riesen gehörten. Er war zudem der attraktivste
Mann der Welt.»
«Arcalia oder Argalia», entfuhr es n Machia in heller Aufregung.
«Das hört sich ganz nach unserem Freund an.»
«Arcalia, der Türke», setzte der Gedächtnispalast fort. «Träger der
Verwunschenen Lanze.»
«Dieser verfluchte Tausendsassa», rief Ago Vespucci bewundernd. «Er
hat getan, was er tun wollte. Er hat sich der anderen Seite
angeschlossen.»